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Meyerbeer in der postkolonialistischen Diskursmaschine

Giacomo Meyerbeer: L’Africaine

Theater:Bühnen Halle, Premiere:29.09.2018 (UA)Regie:Thomas Goerge, Lionel Poutaire Somé

Die Oper Halle zeigt Giacomo Meyerbeers Grand opéra „L’Africaine“ zum Auftakt eines vierteiligen Postkolonialismus-Projekts

Das Leitungsteam der Oper Halle hat ein Faible fürs Komplizierte. Gerade 14 Tage ist es her, dass der Intendant Florian Lutz mit seiner ambitionierten szenischen Interpretation von Verdis „Messa da Requiem“ die Spielzeit eröffnete (darüber gibt es im Blog auf dieser Homepage ein Opernvideo). Nun kam als zweite Opern-Produktion Giacomo Meyerbeers „L’Africaine“ heraus: eine Grande opéra mit ausgedehnten Chorpassagen und zehn großen Solopartien. Das wäre allein schon ambitioniert für ein Haus dieser Größe. Aber es geht bei dieser „Africaine“ letztlich gar nicht um eine künstlerisch gültige Aufführung der Meyerbeer-Oper – die hätte dann nach dem Erscheinen der kritischen Ausgabe von Jürgen Schläder eigentlich ja auch „Vasco da Gama“ heißen müssen, würde am Schluss nicht in Afrika, sondern in Indien spielen und wäre ungefähr doppelt so lang wie das, was jetzt in Halle zu erleben war. Der Titel „Africaine“ geht nämlich auf des Konto des Komponisten François-Joseph Fétis, der Meyerbeers letzte Oper nach dessen Tod mit der ganz groben Bürste umfrisierte.

Jetzt in Halle aber ist gerade dieser Titel (ebenso wie die noch weit radikaleren Striche) Programm: Meyerbeers Werk wird zum Material für ein vierteiliges Projekt zum Thema Postkolonialismus. Unter der Gesamtleitung des Chefdramaturgen Michael v. zur Mühlen entwickelt das europäisch-afrikanische Regieteam Thomas Goerge und Lionel Poutaire Somé gemeinsam mit dem afrikanischen Sounddesigner Abdoul Kader Traoré und den Performern Rosina Kaleab, Telma Bouabeng und Serge Fouha (einige davon aus der Schlingensief-Familie) gleichsam eine Folge von Metamorphosen. Diese Premiere war sozusagen die Exposition. Und die für Januar, März und Juni angesetzten weiteren drei Teilen sollen Meyerbeers „Afrikanerin“ dann immer mehr aus der Kulturperspektive und künstlerischen Machart des europäischen Kolonialismus heraus- und an die gegenwärtige afrikanische Kultur herangeführen, nach dem am ersten Abend immer wieder propagierten Motto: „Der Geist muss entkolonialisiert werden.“ Das signalisiert auch der Untertitel „Fotouona Djami Yélé“, zu deutsch:„Auseinandersetzung mit den Ahnen“: Eben so ein „Ahne“ ist für uns Europäer Meyerbeer, der mit seiner Oper über Vasco da Gama einen frühen Protagonisten des europäischen Kolonialismus feiert.

Aber damit noch längst nicht genug der konzeptionellen Zurüstungen: In den folgenden drei „Africaine“-Metamorphosen wird der aus Südafrika stammende Komponist Richard van Schoor Meyerbeers Musik gleichsam überschreiben. Parallel schreibt er die Filmoper „L’Européenne“ nach einem Drehbuch des Hallenser Mit-Regisseurs und -Performers Lionel Poutaire Somé, die sozusagen von Afrika aus nach Europa blickt und in der kommenden Spielzeit an der Oper Lübeck herauskommen wird. Am Ende wird dann die Hallesche „Africaine“ in Lübeck und die Lübecker „L’Européenne“ in Halle gezeigt. Und weil große Konzepte sperrige Namen brauchen, läuft das vom Doppelpass-Fonds der Bundeskulturstiftung geförderte Unternehmen unter dem buchstabenreichen Titel: I like Africa and Africa likes me. I like Europe and Europe likes me. Alles klar?

Allerdings: Am Ende lebt Theater ja nicht von weitragenden Projektpapieren und gewundenen Wortwürmern, sondern von einnehmenden Bühnenereignissen. Wo also lag der theatrale Mehrwert dieses ersten Teils, der erneut auf Sebastian Hannaks Raumbühne BABYLON spielt, der Nachfolgerin der HETEROTOPIA aus der letzten Spielzeit? Nun – wieder einmal bestätigt sich, dass Hannaks den ganzen Theaterraum umgreifendes Totalkonzept, das er in dieser Saison von der artifiziellen, weißen HETEROTOPIA-Landschaft in eine eher provisorische Collage-Ästhetik mit Metallgerüsten und einigen Prospekt-Anspielungen auf die Stadt Halle überführt – wieder einmal bestätigt sich, dass er damit Spielsituationen schafft, die den Erlebniswert praktisch jeder Aufführung enorm steigern. Die Musikwahrnehmung wird natürlich klangperspektivisch verzerrt. Aber durch das Auflösen der frontalen Zuschauer-Situation gehen die in allen Bereichen des Hauses (Parkett, Ränge, Seitenbühnen, Hinterbühne) sitzenden Besucher auf Tuchfühlung mit dem Geschehen. Man kann sich die szenischen Aktionen kaum vom Hals halten, man wird einfach reingezogen. Und zwar auch dann, wenn man, wie hier, durchaus musikalische Einbußen und konzeptionelle Hürden hinzunehmen hat. Das Gesamterlebnis ist dennoch enorm intensiv.

Die konzeptionellen Hürden haben mit der Vorläufigkeit dieses ersten Abends zu tun. Hier wird Meyerbeers Oper geradezu ausgestellt auf einer bis auf wenige Versatzstücke und viele Luftballons leeren, dauernd kreiselnden Drehbühne. Und die beiden Regisseure setzen markant den konzeptionellen Rahmen, in den das Werk eingebettet wird. Zu Beginn dreht auf der Drehbühne ein hicksendes Hasenmännlein seine Kreise (Hasen hatten es ja schon Christoph Schlingensief angetan). Ein exotischer, kunstvoll verzerrter Soundscape verbreitet exotisch-fremdartiges Melos, auf den Screens brennen Feuer, dunkelhäutige Menschen kämpfen gegen eine Flut, später sprechen die Performerinnen und Performer Versatzstücke postkolonialen Denkens und Theoretisierens oder tauchen kurz ein in ihre afrikanische Sprachbildwelt. Dann begrüßt der von dem kleinwüchsigen Performer Jona Berganda enorm präsent dargestellte Hase uns als Vertreter des „Geldbürgertums“, erinnert an die Usancen der Grande opéra – und tatsächlich erklingen nun die ersten Musiktakte von Giacomo Meyerbeer.

Die Performer platzieren zwei Puppen wie Tennisschiedsrichter auf zwei Klappleiter-Sitzen. Die eine erkennt man als Meyerbeer; die andere, eine dunkelhäutige Frau, findet man glücklicherweise im Programmheft: Es ist die 1789 in Südafrika geborene Sarah Baartman, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Paris als Vénus hottentote zum sexuell aufgeladenen exotischen Schauobjekt wurde. Die beiden verkörpern nochmals die Pole, zwischen die Meyerbeers Oper gestellt wird – und verkünden uns das Programm des Abends: Europa und Afrika hätten einander tiefe Wahrheiten mitzuteilen. Die gemeinsame Geschichte sei geprägt von Gewalt und Zerstörung, keiner der beiden Kontinente habe „das Drama des Kolonialismus“ wirklich aufgearbeitet. „Die alten kolonialen Erfahrungen müssen aus dem Haus geworfen werden. … Der Geist muss entkolonialisiert werden. … Fünf Möbelpacker sind nötig. Fünf Möbelpacker werfen die alten Möbel aus der Wohnung und stellen neue hinein.“ So schulfunkt es aus den animiert bewegten Mündern der beiden Puppen.

Das ist natürlich ein hochrelevantes Anliegen, zumal in einer Stadt, in der die Identitäre Bewegung ganz andere Anliegen im Sinn hat. Und es ist ja auch richtig, dass Meyerbeers und Eugène Scribes musiktheatrale Narration in der Figur der titelgebenden Afrikanerin Sélica, die sich freiwillig für das Eheglück des Conquistadoren Vasco da Gama mit einer europäischen Adeligen opfert, die kolonialistische Ausbeutung in einer heute schwer erträglichen Weise verklärt. Das Problem ist nur, dass die Inszenierung das an Meyerbeers Oper selbst gar nicht beglaubigt. Die wird zwar in die Umgebung der vielen bildlich und textlich kommentierenden Screens und Einspielungen gestellt. Doch das Werk selbst (oder das, was hier davon übrig geblieben ist) wird nicht analytisch aufgebrochen, sondern auf der Drehbühne in historisierenden Kostümen (Ausstattung: Daniel Angermayr) und artifiziell stilisierter Nacherzählungsregie vollkommen konventionell ausgestellt. Natürlich ist das konzeptbedingt: Das Regieteam kommt ja gar nicht umhin, zu Beginn den Ausgangspunkt zu vergegenwärtigen, von dem die Reise der folgenden drei Teile ausgeht. Aber als theatrales Erlebnis bleibt so eben doch noch vieles These, Behauptung. So vorläufig wie der Abend ist allerdings auch diese Kritik. Wie sich das wirklich einlöst, wird man erst im Juni kommenden Jahres, nach dem vierten Teil, sagen können.

Auch die Musik nimmt Schaden. Der Dirigent Michael Wendeberg und die ihm anvertrauten Musiker haben mangels Materials gar nicht die Chance, miteinander in den Meyerbeer-Groove zu kommen und dessen meisterhafte Tableau-Dramaturgie wirklich zu entwickeln. Man muss allerdings auch sagen, dass die Staatskapelle Halle, die noch am Vortag Verdis „Requiem“ unter schwierigsten Umständen famos interpretierte, bei dieser Premiere wahrlich nicht ihren besten Tag hatte, und dass die Koordination von Solisten, Chor und Orchester ziemlich klapperte. Und die Sängersolisten bestätigten einmal mehr, dass die Kunst, Meyerbeer zu singen, nahezu ausgestorben ist. Klar, es ist eindrucksvoll, dass ein Haus wie Halle es überhaupt hinbekommt, zehn ziemlich oder sogar sehr große Partien so zu besetzen, dass alle Figuren (in vorderster Linie Matthias Koziorowski als Vasco da Gama und Romelia Lichtenstein als Sélica) ihre Partien nicht nur schaffen, sondern auch mit dramatischer Präsenz aufladen. Aber stilistisch bot nur die neu ins Ensemble gekommene russische Sopranistin Liudmila Lokaichuk als Inès mit ihrem klar fokussierten, zwischen Koloratur, Lyrik und Dramatik attraktiv changierenden Sopran eine diskutable Leistung.

So war nach dieser Premiere auf der Raumbühne BABYLON zwar der Vorhang nicht zu, denn es gibt hier keinen. Aber viele Fragen blieben offen. Doch man muss nochmal deutlich sagen: Das liegt auch in der Natur dieses weittragenden Projekts. Und das theatrale Erlebnis war allemal fesselnd genug, um auf die folgenden Teile neugierig zu machen.