Foto: Christophe Vetter in dem Projekt "Fliehen & Forschen" von "werkgruppe2" am Staatstheater Braunschweig. © © Volker Beinhorn
Text:Jan Fischer, am 29. März 2015
Fliehen & Forschen, werkgruppe2, Staatstheater Braunschweig, Migranten, Julia Roesler, Projekt, Ceossover, Theater
An der Bushaltestelle vor dem Theater klebt ein knallroter Zettel: Am vergangenen Montag, steht da, mussten die Braunschweiger Busse wegen einer Demonstration umgeleitet werden. Zumindest soviel hat der Braunschweiger PEGIDA-Ableger, BRAGIDA, schon erreicht.
Der Zettel ist eine Erinnerung, dass ein Stück wie „Fliehen & Forschen“ der werkgruppe2 nötig ist. Bisher inszenierte die Gruppe in Braunschweig die Dokumentarstücke „Polnische Perlen“ und „Erdbeerwaisen“, die sich mit Migranten aus dem osteuropäischen Raum beschäftigten. In „Fliehen und Forschen“ geht es um Migranten, Flüchtlinge, aus Afghanistan, Palästina, Syrien und dem Sudan – genau den Ländern, also, die schwammig immer als irgendwie „arabisch“, irgendwie islamisch““ zusammengefasst werden. Migranten wie die – also: gegen die – die zahlreichen -GIDAs auf die Straße gehen. Das Gegenstück zu dem Zettel der Verkehrsbetriebe ist das erste, was die Zuschauer bei „Fliehen & Forschen“ sehen: An einem Konzerflügel hängt das Wort „Willkommen“, auf deutsch und auf arabisch. Aus einem der Decke installiertem Drucker regnen Aufnahmeformulare auf das Publikum.
In „Fliehen & Forschen“ beschäftigt sich die werkgruppe2 damit, wie willkommen die Migranten und Migratinnen in Deutschland sind. Dafür hat die Gruppe neun mit neun von ihnen gesprochen, und das dem vierhundertseitige Transkript zu einem zweistündigen Abend verdichtet, der sich hauptsächlich aus seiner Informationsfülle speist. Da ist der Maschinenbauprofessor Kadir Hemidi aus dem Sudan, dessen 94jähriger Vater nicht nach Deutschland reisen darf, weil er laut der Behörden eine Gefahr darstellt. Da ist Rana Al-Sayed, seine Frau, die ihr Kopftuch gerne trägt und keine Lust mehr hat, sich als Stellvertreterin für alle Muslime rechtfertigen zu müssen. Da ist Samir, ein Flüchtling aus dem Sudan, der die Opferrolle nicht spielen will. Da ist Leyla, ein Kind afghanischer Flüchtlinge und in Deutschland aufgewachsen, die sich fragt, wieweit sie sich denn noch integrieren muss, bevor ihr nicht mehr gesagt wird, sie müsse sich integrieren. Alle diese Figuren – und noch mehr – erzählen in „Fliehen & Forschen“ ihre Geschichten und zeichnen damit ein differenziertes Bild der Art und Weise, wie in Deutschland Migranten und Migrantinnen aufgenommen werden. Alle, egal, von wo sie kommen, egal, wie sie gekommen sind, egal, wie lange sie in Deutschland leben – alle haben Erfahrung mit institutioneller Willkür und Alltagsrassismus gemacht.
Durchsetzt wird die Textfülle immer wieder von Musik, die oft zwischen Harmonie und Dissonanz schwankt: Die afghanische Nationalhymne wird gesungen und das Publikum eingeladen, sie mitzusingen, und immer wieder spucken die an der Decke installierten Drucker massenweise Papiere aus, mit denen die Darsteller wütend auf Gestänge trommeln. Denn die deutsche Willkommenskultur wird immer auch als Papierkrieg gezeigt. „Fliehen & Forschen“ liefert viel Informationen, viele Geschichten und findet auch immer wieder überzeugende Bilder. Es gibt, beispielweise, keine Bühne, gespielt wird im Publikum, am Ende singen die Darsteller die „Ode an die Freude“ und zerreißen die Massen an Papieren auf dem Bühnenboden.
Wenn „Fliehen & Forschen“ ein Problem hat, dann ist es, dass die Inszenierung sich nicht auf die Geschichten verlässt, die erzählt werden, sich nicht auf die Bilder verlässt, die sie findet, um sie zu illustrieren. Sondern dass die Darsteller immer wieder Plattitüden der Machart: „Wir sind doch alle gleich“, ausformulieren, damit es auch wirklich der Letzte noch begreift. Aber die Geschichten und Bilder transportieren Thesen, die viel komplexer sind, geben mehr Material zum Nachdenken ab. „Fliehen und Forschen“ nimmt sich damit einiges an Stärke, die Inszenierung verkauft sich unterkomplexer als sie ist. Das ist schade, denn, auch daran erinnert der Zettel an Bushaltestelle, komplexe Weltbilder sind in diesen Zeiten mehr als nötig.