Thumbnail

Menschen, nicht Helden

William Shakespeare: König Lear

Theater:Münchner Kammerspiele, Premiere:09.03.2013Regie:Johan Simons

„Look there, look there!“ So steht‘s geschrieben auf dem rot-weiß gestreiften Vorhang. Die letzten Worte von William Shakespeares „König Lear“, sie machen den Anfang. Hier in München würde man sagen: „Da schau her!“ Da ist er ja wieder, der Lear. Zuletzt stand am 31. Dezember 1999 Rolf Boysen in dieser Rolle auf dieser Bühne. Es war die letzte Vorstellung unter der Intendanz Dieter Dorns im Schauspielhaus. Die Geschichte vom alten König, der den Stab an die nächste Generation weiterreicht, wurde zum Abschied des langjährigen Intendanten. Die Inszenierung spukt noch immer im Theater herum: 12 Monate Probenzeit, fünfeinhalb Stunden Dauer, ein Wahnsinn… Und nun also Johan Simons mit seinem Protagonisten André Jung. Simons hat sich vorgenommen, in der Jubiläumsspielzeit einen Blick in die Vergangenheit des Hauses zu werfen – und wagt sich an die Legende „Lear“.

Shakespeares Drama ist eines der enttäuschten Vaterliebe. Lear will die Macht abtreten, sich in Würde zurückziehen. Doch zuvor will er sich der Liebe seiner Töchter versichern. Die beiden Älteren, Goneril und Regan, überhäufen ihn mit Schmeicheleien. Allein die Jüngste, Cordelia, verweigert sich dem hohlen Spiel: Sie liebe den Vater, wie es ihre Pflicht sei. Nicht mehr, nicht weniger. Der Vater ist gekränkt, er enterbt und verstößt sie. Sein Schicksal legt er in die Hand von Goneril und Regan. Eine Fehlentscheidung mit verheerenden Folgen: Aus verletzter Eitelkeit löst der König eine Tragödie aus, die keiner überleben wird. Er nicht, und keine seiner Töchter. Denn mit dem, was seine Ältesten mit ihrer neuen Macht anstellen, mag sich der sture Ruheständler nicht abfinden. Es gibt Konflikte, Intrigen, Krieg, Tote. Der abtretende Souverän hinterlässt ein Machtvakuum, das zu viele füllen wollen und keiner zu füllen versteht.

Johan Simons bleibt nah bei Shakespeare, nimmt ihn beim Wort und vertraut der Geschichte. Das verbindet ihn mit Dieter Dorn. Von dessen Erhabenheit allerdings ist bei Simons wenig zu spüren: Er erdet das Drama, holt seine Figuren zurück auf den Boden. Simons zeigt Menschen. Nicht Helden. Stefan Hunstein, Wolfgang Pregler, Peter Brombacher, Annette Paulmann, Sylvana Krappatsch … Simons hat ein großartiges Ensemble um sich versammelt und animiert seine Schauspieler zu Höchstleistungen: Sie alle treffen den Ton, viele zeigen völlig neue Facetten ihrer Kunst. Bert Neumann hat eine Spielwiese der Eitelkeiten gebaut: eine kreisrunde Rasen-Plattform, zu der mit Stoffbahnen verhängte Holzstege führen. Eine Kulisse, die an ein sommerliches Strandbad erinnert. Ein glitzernder Lamettavorhang sorgt für den nötigen Glamour, verwandelt die Wiese in die diversen Paläste – und verheddert sich ständig und völlig unglamourös in Haar und Kleidung derer, die hier ein und aus gehen. Der schöne Schein ist nur Fassade.

André Jung spielt den Lear. Er spielt einen, der hadert, zaudert, der eine Entscheidung trifft, die er nicht leben will. Er spielt einen, der der Schlechtheit der Welt kindlich naiv gegenübersteht, der nicht fassen kann, dass seine eigenen Töchter ihm so wenig wohlgesonnen sind. Als die Welt um ihn in einem grandiosen Sturm zu zerbrechen droht, als er dem Wahnsinn nahe ist – da gelangt dieser Lear zu einer tiefen Ruhe. Nun, da er die Welt erkennt, wie sie ist, findet er zu sich. Lear, der Wahnsinnige: Hier ist er ein weiser, alter Mann. In seinem Palast ist kein Platz mehr für ihn, er ist bei den Schweinen gelandet, die Simons – textgetreu – auf die Bühne und seine Schauspieler loslässt. Der Narr, den Thomas Schmauser grandios trötend, tobend, turnend und tiefgründig spielt, er wusste es von Anbeginn: Die Welt, sie ist ein Narrenhaus.