Foto: "Lullabye Experience" am Mousonturm © Monika Rittershaus
Text:Regine Müller, am 3. Februar 2019
Bevor man den Ort des Geschehens betreten darf, muss man sockenartige Schuh-Schoner anziehen. Am Eingang wird darauf hingewiesen, dass es drinnen so gut wie keine Sitzplätze geben wird. Aha, also eine begehbare Installation, oder ein Wandelkonzert? Dann darf man hinein: Den Boden bedeckt eine dicke Schicht weißer Gänsefedern, in der Mitte des Raums steht ein riesiges Bett, das zum Fußende hin im Boden zu versinken scheint, hinten hängt ein leuchtender Mond von der Decke, daneben baumelt eine Schaukel herab, ein Clown – oder ist es eine Puppe? – sitzt reglos in einem Lichtkegel, sanfter Pyronebel trübt nur leicht die blaue Lichtstimmung. Aus den überall im Raum positionierten Lautsprechern tönt das Geräusch von gluckerndem Wasser. Das Publikum ist sofort Teil dieser kindlichen Trance-Traumszenerie, Teil der Raum-Klang-Installation, die im Lauf der ersten 30 Minuten langsam in Bewegung gerät. Bei jedem Schritt plustern die Federn in alle Richtungen, unter das wandelnde Publikum mischen sich nach und nach weitere Akteure: Aus den Laken des Riesenbetts pellen sich ein bezopftes Mädchen im rosa Nachthemd mit Plüschhund, eine Ballerina, eine Art Conferéncier, später ein Stelzenmann, eine Vorleserin, ein älterer Herr mit Aktentasche. Dann ertönen Stimmen aus den Lautsprechern, zumeist weibliche Stimmen, die einfache Melodien intonieren, einander überlagen und sich schnell zu einem unentwirrbaren Stimmteppich verdichten. Manchmal glaubt man, eine Phrase zu erkennen, wie etwa „morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt“ aus Brahms’ „Guten Abend, gut’ Nacht“, aber eigentlich klingt alles irgendwie bekannt, was da sanft in den Raum weht.
Kein Wunder, denn das Projekt „Lullaby Experience“ ist der Versuch, aus dem kollektiven Musikgedächtnis der ganzen (westlichen) Welt die prägenden Melodien der Kindheit einzusammeln und daraus so etwas wie einen Cluster der Wiegenlieder zu formen. Tatsächlich handelt es sich um ein partizipatives, interaktives Projekt, das der französische Komponist Pascal Dusapin ersonnen und in Koproduktion mit dem Ensemble Modern, dem IRCAM Paris und dem Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique entwickelt hat. Die Basis des Projekts ist die App „Lullaby Experience“, die im App Store oder Google Play Store herunterzuladen ist. Damit kann jeder, der will, seine Melodie mit dem Smartphone aufnehmen und über die App abschicken, die vom IRCAM entwickelt wurde.
„Lullaby Experience“ steht also im Prinzip jedem – Kindern und Erwachsenen – auf der ganzen Welt offen. Dusapins These und die seiner Mitstreiter lautet, dass jeder ein Lied oder eine Melodie in sich trägt, die seine Kindheit definiert. Oft ist dieses Lied von der Zeit in der Erinnerung jedoch verändert. Kommuniziert wurde das Projekt weltweit über die Goethe-Institute, der Rücklauf war enorm: Nicht weniger als 600 Einsendungen von selbst aufgenommenen Liedern sind zusammengekommen und es wird weiter gesammelt. (Im Juni kommt die Produktion in Paris heraus und wird dann verändert erklingen.) Die Aufnahmen werden von Pascal Dusapin eingespeist, genutzt, transformiert und zusammengesetzt.
Doch damit nicht genug. Nach 30 Minuten Wiegenlied-Klängen aus den Lautsprechern kommt ein reflektierender Live-Act hinzu: Zu den 64 Lautsprechern gesellen sich zwölf Musiker des Ensemble Modern, um für etwa 45 Minuten mit der Klanginstallation live improvisierend als Reflex und Kommentar (in einem festgelegten Rahmen freilich) zu interagieren. Die Musiker sind zusätzlich verkabelt, so dass die Live-Klänge teilweise ebenfalls durch die Lautsprecher geschickt und verfremdet werden.
Klingt kompliziert? Ja und nein. Die Szenerie, in der die weitgehend stummen Figuren von Regisseur Claus Guth dezent, aber stets mit expressiver Überhöhung inszeniert sind, erschließt sich aus der Logik kindlicher Träume mittels ihrer zwar klischeelastigen, aber doch atmosphärisch äußerst dichten Bilder. Zwischendurch wird das Publikum in das riesige Bett gebeten, das tatsächlich allen Platz bietet. Eine Handlung im eigentlichen Sinne ist nicht auszumachen, aber das wäre angesichts der die Zeitlichkeit außer Kraft setzenden Klänge auch widersinnig.
Der französische Komponist Pascal Dusapin gilt als einer der bedeutendsten lebenden Komponisten Frankreichs und ist bislang vor allem mit Opern und Kammermusik-Werken aufgefallen, sein Werk gilt als eigenwillig und so recht keiner der gültigen „Schulen“ zuzuordnen. Dusapin ist der große Außenseiter der französischen Gegenwarts-Komponisten, sein impressionistisches Kolorit erinnert zuweilen irritierend an seinen Landsmann Claude Debussy, aber Dusapins Zeitmaß ist ungleich gedehnter. Und immer wieder zelebriert er das Kommen der Klänge aus dem Nichts und ihr Verschweben wieder ins Nichts. So auch hier.
Nach knapp 80 Minuten, in denen das musikalische und szenische Geschehen immer wieder zu verlöschen scheint, die Wiegenlied-Stimmen sich bis auf eine ausdünnen und wieder in Wasserplätschern übergehen und die Live-Musiker drei mal auf-und abtreten, verlöscht das Licht schließlich endgültig. Fazit: Eine musikalisch suggestive Klanginstallation mit einer gewissen Restsüße, die sich szenisch zwar manchmal gefährlich dem Kitsch nähert, sich aber doch kongenial zur Klangspur verhält.