Foto: Stefan Willi und Anja Lenßen in der deutschsprachigen Erstaufführung von „Wer Wind sät“ © Christina Iberl
Text:Gunnar Decker, am 13. Dezember 2023
Am Staatstheater Meiningen wird ein amerikanischer „Polit-Thriller“ über Meinungsfreiheit und Radikalismus erstmals auf deutsch gezeigt. Doch verliert die Inszenierung von „Wer Wind sät“ vor allem wegen der fundamentalen juristischen und mentalen Unterschieden zwischen Deutschland und den USA an Relevanz.
Ein Mann fällt tief, ein alter weißer Mann, muss man wohl hinzufügen. Handelt davon „Wer den Wind sät“, die deutschsprachige Erstaufführung des Stücks des amerikanischen Autors Paul Grellong (deutsch von Anna Opel)? Der zweistündige Abend besteht darin, dass man immer aufs Neue zu erraten versucht, worum es hier eigentlich geht. Doch immer, wenn man glaubt, es zu wissen, geht es schon wieder um etwas anders.
Prestigeträchtiges Symposion
Seit fünf Generationen ist die aus Irland stammende Familie von Charles Nichols, den Stefan Willi Wang forciert elitär mit Tendenz zur alkoholbedingten Zerrüttung zeigt, mit der Universität Harvard in Cambridge verbunden. Er ist Geschichtsprofessor mit Schwerpunkt Extremismus. Doch sieht er seinen Status gefährdet, sein aufklärerischer Ansatz der Gedanken- und Meinungsfreiheit als Fundament westlicher Demokratien wird von postkolonialen Diskursen in Frage gestellt, die die Aufmerksamkeit der Medien für sich zu nutzen wissen. Also wagt er den großen Coup, um damit wieder stärker ins Zentrum der Debatte zu gelangen: Für ein prestigeträchtiges Symposium lädt er einen bekannten weißen Nationalisten und Holocaustleugner, den Hassredner Benjamin Carver sein. Er will seine Thesen vor großem Publikum zerpflücken, ihn als gefährlichen Ideologen entlarven – und damit in seiner Paraderolle des diskurstrainierten Aufklärers brillieren.
Für die Einladung des Extremisten an die traditionsreiche Bildungsstätte hat er die amerikanische Verfassung auf seiner Seite. Sie garantiert ausdrücklich die Freiheit auch zur Hassrede, sogar zur Holocaustleugnung, die hierzulande unter Strafe steht. Kämpft doch einmal echte geistige Kämpfe aus und nicht bloß immer nur zum Schein mit vorherbestimmten Ausgang! – so seine Botschaft. Denn es könnte sein, dass die Blase der gleichgestimmten Community nicht die ganze Welt ist, dass draußen ein rauerer Wind weht.
Power of Sail
Wer Wind sät, wird Sturm ernten? Dass ist die deutsche Lesart, die sich auch im Stücktitel widerspiegelt. Im Original heißt es „Power of Sail“, was auf die nautische Regel verweist, dass ein Schiff unter Segeln immer Vorfahrt hat. Dies wiederum scheint ein sehr amerikanischer Titel: Komme dem nicht in die Quere, der gerade mit hoher Geschwindigkeit deinen Weg kreuzt! Die Bühne von Pascal Seibicke: ganz rot, wie in Blut getaucht, und mit einer Art steiler Tribüne, die auch eine Rampe sein könnte, im Zentrum. Hier wird die Schiffsmetapher aufgenommen und eine Vitrine mit Segelschiff gut sichtbar seitlich platziert. Das Segelschiff, so heißt es, sei ein Symbol des alten konservativ-patriarchalen Amerika, das mit Donald Trump wie mit der Vielzahl von Bürgerbewegungen gleichermaßen wenig anfangen kann. Dafür steht hier auch Charles Nichols. Seine Idee, einen Holocaustleugner zu einem Vortrag nach Harvard einzuladen, um ihn bloßzustellen, löst heftige Proteste aus. Er werte ihn so zwangläufig auf.
Die Frage stellt sich grundsätzlich, ob man auch jemandem Freiheiten zubilligen soll, der diese abschaffen will? Aber es von vornherein nicht zu tun, was sagte das über uns selbst? Das wäre ein starkes abendfüllendes Thema. Doch das Beispiel eines Holocaustleugners, das so nur im amerikanischen Kontext funktioniert, taugt dafür nicht. Bei uns sind Holocaustleugner Straftäter, die Frage, ob man einem solchen die Bühne geben sollte, stellt sich somit nicht. Das ist schlecht für die von Regisseur Frank Behnke inszenierte Debatte, die in diesem Punkt zumindest keinen Bezug zu unserer Realität hat – aber immerhin zur amerikanischen.
Damit ist das Thema gestellt und gleichzeitig zumindest teilweise wieder abgeräumt worden. Dabei bietet das Thema Meinungsfreiheit zahlreiche Bezüge gerade auch für die Kunst. Ich denke an den ’89er Wende-Herbst in der DDR, der unter dem Satz von Rosa Luxemburg stand: „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden.“ Den eigenen Standpunkt, die eigene Meinung zu allererst in Frage zu stellen, das ist ein aufklärerischer Ansatz. Ebenso wäre das Verhältnis von Universalismus und Partikularinteressen zu bedenken, schließlich die Frage, ob man „weiße“ Aufklärung mittels postkolonialer Theorien attackieren sollte. Immerhin ist „cancel culture“ etwas, das offensiv – mitunter sogar militant – Meinungsfreiheit, wo sie mit den eigenen Ansichten kollidiert, einschränkt. Doch all das sind Bezüge zum Thema Meinungsfreiheit, die in „Wer Wind sät“ nicht vorkommen. Schade, denn diese Erwartung war geweckt worden.
Akademische Geplänkel
Und so beginnt die Inszenierung immer stärker in akademischen Eitelkeiten zu kreisen. Die großen Worte über Gedanken- und Meinungsfreiheit, die Moral, den Feminismus, die Minderheitenrechte lösen sich nach und nach auf, versinken im Intrigensumpf. Auch Nichols lädt den Extremisten nicht nur nach Harvard ein, um Meinungsfreiheit zu demonstrieren – er hat mit ihm einen schnöden Handel zu laufen. Alle wollen sie mehr mediale Aufmerksamkeit, alle wollen sie – egal wie – Karriere machen.
Das ist gewiss ein Sittenbild des gegenwärtigen Amerikas, das an bösartiger Trivialität nicht zu überbieten ist – aber auch eine etwas simple Auflösung des thematisch so ambitioniert begonnenen Abends. Gegenwärtige und frühere Doktoranden von Charles Nichols tauchen auf, eine zwielichtige Dekanin (Anja Lenßen) zieht die Fäden. Sie alle haben einen fatalen Hang zum Plakativen wie Maggie (Emma Suthe), die ihren Professor mit der Parole attackiert: „Sie haben eine Stimme – Sie sollten sie nutzen, sie sollten sich aufs Dach stellen und ihre Stimmbänder schreddern, um die Nazis und den Scheiß Ku-Klux-Klan von Ihrem Campus fernzuhalten.“ Wen wundert es, dass der Professor ein anderes Selbstverständnis hat als diese Aktivistin?
Eine farbige Studentin wird bei Protesten gegen den Vortrag des Holocaustleugners erschossen, aber das ist hier fast nur noch eine Nachricht unter vielen. Der Täter sei bereits gefasst, heißt es lapidar. Aber weder diesen noch das Opfer oder auch den ominösen Extremisten bekommen wir hier je zu Gesicht. Es ist ein recht hysterischer akademischer Metadiskurs, an dem wir hier teilhaben, inklusive seiner finalen Selbstzerstörung. Mehr und mehr bekommt man den Eindruck, dass das Stück des auch als TV-Autors hervorgetretenen Paul Grellong kein wirklich gutes ist. Man redet nicht nur ununterbrochen, man zerredet jeden Gedanken und jedes Gefühl. Interruptus aller Orten.