Foto: Tragen den Abend: Joachim Berger, Kristin Muthwill, Jon-Kaare Koppe und David Hörning als Familie Grimm. © Thomas M. Jauk
Text:Michael Laages, am 18. Januar 2020
Die neue Einheit wurde gerade fünf Jahre alt, und längst hatte auch das Fernsehen die begeisterungsbesoffenen Bilder vom Spätherbst 1989 hinter sich gelassen; Risiken und Nebenwirkungen der Begegnung zwischen Ost und West im neuen Deutschland waren unübersehbar geworden. Dass die Programmgestalter ausgerechnet den eher nicht fernsehaffinen Schriftsteller Jurek Becker als Autor gewannen für das Serienprojekt „Wir sind auch nur ein Volk“, war an sich schon ein Knüller – zumal Beckers dramatischer Lebensweg (aus dem jüdischen Ghetto in Lodz über die Konzentrationslager Ravensbrück und Sachsenhausen in die Nachkriegs-DDR und 1977, im Protest gegen den Ausschluss des Kollegen Reiner Kunze aus dem Schriftstellerverband, weiter in den Westen) fundamentale Distanz garantierte gegenüber jeder Form von vordergründiger Jubelstimmung. Als auch noch der seit Wolf Biermanns Ausbürgerung im Westen arbeitende Schauspieler Manfred Krug zum Fernsehprojekt stieß, Beckers lebenslanger Freund, war der Coup komplett.
Grenzgänger Krug, ihm zur Seite die grandiose Berliner DT-Schauspielerin Christine Schorn und beiden gegenüber West-Routinier Dietrich Mattausch trugen Beckers vertrackte kleine Spiel-im-Spiel-Fabel – in ihr soll ein West-Autor in der Begegnung mit einer möglichst alltäglichen Ost-Familie das Material für eine Fernsehserie recherchieren, deren Ziel mehr doppeldeutsche Gemeinsamkeit ist. Und während Ost und West sich in dieser Begegnung durchaus näher kommen, wird das Serienprojekt in der letzten Folge von den Hierarchen klammheimlich beerdigt. Zeigen, was schief läuft und was möglich wäre, und Nicht-Zeigen zugleich – das war der feine Trick von Beckers Dramaturgie der deutschen Einheits-Ironie.
Die Erinnerung an das Original ist wichtig, wenn nun – nach dem Staatsschauspiel in Dresden sowie dem Vogtland-Theater in Plauen und Zwickau – auch das Hans Otto Theater in Potsdam auf die Bühnenwirksamkeit der TV-Komödie setzt. Auch hier ist (wie an den anderen Orten) die jeweils eigene Fassung entstanden, montiert aus neun Drehbüchern von Dramaturgin Natalie Driemeyer und Regisseur Maik Priebe. Aber einmal mehr wird eben auch deutlich, was für ein kompliziertes Unternehmen das ist – Fernsehen nämlich funktioniert im Theater nicht „einfach so“, wie „well made“ es auch immer für den Bildschirm geschrieben und jetzt von Regisseur Priebe fürs Theater inszeniert sein mag.
Automatisch und ganz unvermeidbar nämlich geht die Nähe verloren, die vor dem Bildschirm im Puschen-Theater ganz selbstverständlich ermöglicht wird: durch die Kamera, die dem Bildschirm-Personal auf die Pelle rückt. Gerade eine Raum-Behauptung wie die von Priebes Stamm-Bühnenbildnerin Susanne Maier-Staufen schafft im Theater Distanz, wie sehr sie sich um Nähe bemüht – wie in den Konstruktionen von Aleksandar Denic ließ sie eine Art Haus auf die Drehbühne bauen, in dem alle Spielräume versteckt sind; das Bett der Ost-Familie wird besonders vergnüglich aus der Tiefe des Raumes hervor gezaubert. Diese Drehbühne ist nun zwar fleißig unterwegs und präsentiert so geschickt und schnell wie irgend möglich Szenario um Szenario – doch wie bei uns oder gleich nebenan zu Hause wirkt das Ensemble nie. Nur im intimsten Raum einer Werkstatt- oder Kammerbühne wäre das „Wir“ erreichbar, das der Titel behauptet.
Die aus den Serien-Teilen destillierten Episoden funktionieren dabei sehr ordentlich – Papa Grimm, der arbeitslose „Dispatcher“ (ein Job, der speziell in der DDR für die Verwaltung von Mangel und Unmöglichkeit da war) und Frau Trude (die Lehrerin war und blieb), deren Vater Kurt (einst von der NSDAP direkt zur SED gewendet) und der Englisch lernende Sohn Theo sind das Kraftzentrum, das Menschen von außen anzieht: Theos liedermacherische Freundin, Mutters selbstgerechter Bruder aus dem Westen, Vaters Schwester, die einst ein Urlauberheim des FDGB leitete, sowie Papas alten Kumpel, der stellvertretender Parteisekretär war im Betrieb von früher; zudem einen arbeitslosen Schauspieler, der für den West-Schriftsteller eine Stasi-Type mimt. All das funktioniert, vor allem dank Jon-Kaare Koppe und Kristin Muthwill als Eltern, Joachim Bergers Opa und David Hörning als Sohn. Die vielen Episoden-Figuren drum herum dagegen und selbst die West-Wesen um René Schwittay als Schriftsteller wirken wie Staffage…
All das bleibt sonderbar unbefriedigend. Und was mag das Hans Otto Theater wollen mit dieser Beschwörung 25 Jahre alter Mühen um gute Nachbarschaft; in Potsdam zumal, der mit Abstand westlichsten aller Landeshauptstädte im Osten? Wahlergebnisse auch in Brandenburg lassen doch (wie überall sonst im Osten) eher ahnen, dass letztlich nichts wirklich bewältigt und geregelt worden ist in mittlerweile drei Jahrzehnten… Gemeinsamkeit stiften – das sei immer noch nötig, schreibt Dramaturgin Driemeyer im Programm-Faltblatt. Das stimmt. Aber täuscht der Eindruck, dass Alt-Ost wie Alt-West an diesem Abend gleich weit weg sind, unerreichbar im Theater?