Foto: Szene aus "Tadellöser und Wolff" in Esslingen © Patrick Pfeiffer
Text:Manfred Jahnke, am 4. Dezember 2015
Walter Kempowski (1929 – 2007) hat ein gewaltiges Werk hinterlassen. In seiner „Deutschen Chronik“ hat er eine Collage über den deutschen Alltag aus Erinnerungen, Reimen, Liedversen und anderen Texten montiert. Zu dieser Chronik gehört auch der Roman „Tadellöser & Wolff“, 1971 erschienen, in dem er seine Kindheit und Jugend in Rostock von 1938 und 1945 nacherzählt. Das hat den Anschein des Dokumentarischen, wirkt sachlich, vermittelt auf den ersten Blick eine neutral-emotionslose Analyse eines faschistischen Alltags, komisch konturiert.
Wenn nun diese kleine mecklenburgische Welt in der schwäbischen Provinz aufgeführt wird, kann man dies als einen Vorgang der Verfremdung verstehen. Die Verhaltensweisen in der Reederfamilie Kempowski im Faschismus sind zwar in Rostock lokalisiert, aber in ihren Ausformungen allgemeingültig. So wird „Rostock“ zum „Modell“ für die Haltung eines konservativen Bürgertums im Dritten Reich. Insofern lässt sich erklären, warum in der Inszenierung von Klaus Hemmerle in Esslingen auch das norddeutsche „s“ so spitz, besonders bei Sabine Bräuning als Mutter, gesprochen wird, obschon meistens in Bühnenhochdeutsch palavert wird, manchmal unterlegt mit leichtet schwäbischer Sprachmelodie.
In der Spielfassung von Klaus Hemmerle und Marcus Grube agiert unter dem Motto „Alles frei erfunden!“ am Anfang der erwachsene Walter Kempowski, der kurz über seine Schreibmethode berichtet, während Eltern und Geschwister hinter einer Leinwand stehen. Dann springt er direkt in das Jahr 1938 und hält sich an die Stationen der Vorlage. Die derart im Anfangsmonolog angedeutete Rückblende wird insofern strukturbildend, als der Walter des Marcus Michalski damit zugleich als Erzähler etabliert wird und damit auch, dass die Geschichten aus der Perspektive des Jungen erzählt wird.
Im Bühnenbild von Frank Chamier dominieren zwei großen Rahmen, zum Publikum hin einer aus Neonröhren, zum Hintergrund ein klassischer Bilderrahmen, bespannt mit transparenter Leinwand, beide schräg gestellt. Weitere Spielorte sind eine Drehscheibe, auf der ein Wohnzimmertisch und Stühle montiert sind, ein kleiner Berg von Umzugkartons und zwei Läufer, die den Raum aufteilen. Diese Bühnenkonstruktion lässt schnelle Verwandlungen zu. Und Hemmerle setzt auf ein hohes Spieltempo, unterstrichen noch durch eine Lichtregie, die mit schnellen Flashs bei den Zeitenwechsel arbeitet und damit das Ensemble zwingt, genaue Pointen zu setzen. Zugleich werden bei den Figuren in den Handlungen präzise Charakterzüge abverlangt. Reinhold Ohngemach findet als Vater neben autoritären Attitüden zu überraschender Sanftheit, Frank Ehrhardt changiert als Bruder Robert zwischen arroganter Überheblichkeit, Strizzihaftigkeit und großer Lebenslust, Nina Mohr als Schwester Ulla hat als Braut des Dänen Sven, von Johannes Schüchner mit Pfeife ein wenig steif vorgeführt, ihre stärksten Momente, Eberhard Boeck brilliert in den Großväterrollen. Überhaupt hat diese Inszenierung ihre stärksten Momente immer dann, wenn die Beziehungen in dieser Familie, das gemeinsame Band deutlich wird, liebevolle Untertöne sich einschleichen und die Sehnsucht nach einer friedlichen Welt zum Impuls des Handelns wird. Darüber hinaus gelingt es Hemmerle, die Balance zwischen einer humorvollen Familienschilderung und der Satire auf ein Bürgertum in der Tradition von Carl Sternheim und Heinrich Mann zu halten. Langer Schlussbeifall.