Drei Frauen in extravaganten Hüten stehen aufgeregt beieinander. Eine versucht die anderen beiden davon abzuhalten auf jemanden loszugehen.

Walzer, Chanson und Can-Can

Maurice Yvain: Ta Bouche

Theater:Gerhart Hauptmann-Theater Görlitz-Zittau, Premiere:25.01.2025Regie:Thomas WinterMusikalische Leitung:Ulrich KernKomponist(in):Maurice Yvain

Thomas Winter entdeckt am Gerhart-Hauptmann-Theater Zittau-Görlitz Maurice Yvains opérette-légères „Ta Bouche (Dein Mund)“ wieder, die man aber nicht zu ihrer Handlung befragen sollte.

Irgendwie kann man schon nachvollziehen, warum dieses Stück „Ta Bouche (Dein Mund)“ ein Knaller war. Nach seiner Uraufführung am 1. April 1922 in Paris wurde es binnen eines Jahres in mehreren Theatern über 400 mal aufgeführt. Den 31-jährigen Komponisten Maurice Yvain machte dieser Erfolg zu einem Star der Operettenszene. Sein Textdichter Albert Willemetz war es bereits. Und auch in Deutschland schlug „Ta Bouche“ ein, übersetzt von niemand Geringeren als Hermann Haller und Fritz Oliven / Rideamus („Der Vetter aus Dingsda“). Die Ruhrkrise verhinderte, dass das Stück auch durch Deutschland einen Siegeszug einschlug. Aus patriotischen Gründen verbannte man es hier schnell wieder aus dem Spielplan. Es kehrte nur selten dorthin zurück. Die Inszenierung des Gerhart-Hauptmann-Theaters Zittau-Görlitz ist eine der Ausnahmen.

Musikalischer Witz

Zu den nachvollziehbaren Erfolgsgründen: Da ist zunächst der spielerische Umgang mit dem Genre der Operette. Immer wieder werden Genre-Konventionen aufs Korn genommen – „Ich liebe dich wirklich. Nicht nur wie ein Operettentenor“ und meta auf die Bühnensituation eingegangen: „Wir haben es gerade dem Publikum erzählt“ oder „Zum Glück haben wir euch noch nicht im 1. Akt verheiratet“.

„Ta Bouche“ ist, ganz „opérette légères, auf ein Maß mit wenigen Figuren (sechs Hauptrollen), wenigen Kulissen (drei im Prinzip austauschbare Seebäder, die in Görlitz zwischen den Akten auf offener Bühne umgebaut werden) und ohne Chor (stattdessen ein kommentierendes Trio singender Neben-Damen) zurückgestutzt. Auch das Orchester darf knapp über Kammergröße ausfallen. Die Musik ist schmissig zwischen Chanson, Walzer und Can-Can angesiedelt. Im Finale des ersten Aktes demonstriert Yvain filigran, wie sich aus mehreren gassenhauerischen Solonummern ein vielschichtiges Ensemblestück weben lässt. Über die Handlung verteilt darf zur gleichen Melodie zunächst die Süße des ersten Kusses und später die Bitterkeit des ersten Mals als gehörnter Mann gesungen werden – c’est une surprise.

Wie die Melodien stecken auch die Texte voller Witz – gelegentlich schon an der Grenze zum Erträglichen, beispielsweise die stetige Wiederholung des „Cousin Martell im Hotel“. Schon lang nicht mehr hat man so oft die Worte „famos“ und „kolossal“ vernommen, weil sich so wunderbar viel darauf reimen lässt. An so mancher Stelle stehen herausfordernd viele Silben in sehr schneller Tonfolge. Man singt an gegen die Unzumutbarkeiten der Moderne – überfüllte Seebäder, hellhörige Hotels, Fachkräftemangel. Und ansonsten sind die Texte mit eingängigen Botschaften versehen: „Wie gemütlich war die Welt einst bestellt“, singt die Mutter zur Tochter, „Es geht heut anders zu“ der Sohn zum Vater, „Ach wie schön wäre das Leben, gäbe es denn nicht die Liebe“ die Dienerschaft und „Warum ist denn der Mann so dumm, so’n blödes Individuum“ die verliebte Frau.

Soziale Verstrickungen

Womit man bei der Handlung angekommen ist. Zwei Trios bilden die Hauptfiguren: Eine Gräfin, ihre Tochter Eva und ihr Kammerdiener (und vorübergehender Geliebter) Jean bilden das eine, Mr. Du Pas de Vis, sein Sohn Bastien sowie seine Kammerzofe (und vorübergehende Geliebte) Mélanie das andere. Die beiden Elternteile wollen, dass ihre Kinder einander heiraten – vor allem, weil sie vom jeweils anderen Part erhoffen, aus der nahen Privatinsolvenz errettet zu werden: Geldmangel plagt die alten Herrschaften, ihre Kinder sind ihr Kapital. Die sind allerdings auch ernsthaft ineinander verliebt. Doch Heiraten dürfen sie zunächst nicht, schließlich ist die andere Familie zu arm.

Bis sich im dritten Akt drei Pärchen finden, steckt die Handlung genretypisch voller unverhoffter Erbschaften, zufällig gefundener Briefe, immer neuen Beziehungskonstellationen – und voller Frivolitäten: Eva und Bastien verloben sich nicht per Austausch von Ringen, sondern in einem versteckten Zimmer direkt körperlich; da gibt’s in der Hochzeitsnacht keine bösen Überraschungen, legt Eva fest. Überhaupt ist sie die moderne Figur in ansonsten altbackener Umgebung: Noch etwas naiv im ersten Akt, wandelt sie sich zur enttäuschten, aber auch die Männerwelt in ihrer Unnahbarkeit immer wieder enttäuschenden femme fatale, bevor sie im dritten Akt im Wortsinne die Hosen anhat und den Mann, den sie liebt, nicht mehr von der Angel lässt. So weit, so erfolgsbringend im frühen 20. Jahrhundert.

Stimmiges Ensemble

Die Inszenierung von Thomas Winter vermittelt dies in all seiner Operettenhaftigkeit aufs Feinste. Ulrich Kern führt die Neue Lausitzer Philharmonie mit lockerer Hand durch die lockeren Melodien. Tilmann von Blomberg überführt gekonnt die mondäne Ausstattung des Görlitzer Zuschauerraums in das anfängliche Bühnenbild, das dann von Akt zu Akt moderner, weil abstrakter wird. Die Rollen sind mit Yvonne Reich (Gräfin), Hans-Peter Struppe (Mr. Du Pas de Vis), Michael Berner (Jean), Lisa Orthuber (Mélanie) solide und stimmig besetzt und angemessen ausgefüllt. Yalun Zhang als Bastien weiß stimmlich zu überzeugen und İlkin Alpay Feng als Eva darüber hinaus auch in den schauspielerischen Parts – fast scheint es so, als nähme sie ihren Bühnenpartner Zhang an die Hand, um ihn zu leiten. Das alles gibt am Ende ehrlichen, teils stehenden Applaus.

Und doch bleibt die Frage, wieso es das gebraucht hat. Was mag uns das Stück heute noch sagen? Ist es auch nach heutigen Ansprüchen noch unterhaltsam? Dann liest man noch einmal das Spielzeitmotto „Kapital“ und stellt sich die Planungssitzungen und Diskussionen vor, die vor Monaten im Leitungsteam stattgefunden haben müssen: „Wir haben deutsche Erstaufführungen, wir haben ‚Der Geizige‘, das Orchester spielt Drei-Groschen-Stücke. Aber wir brauchen noch ein bisschen leichte Muse…“ Und ganz tief wird gekramt, wo haben wir denn Operette, wo geht’s denn um Geld? „War da nicht mal, da war doch mal – und schon so lang nicht mehr gespielt. Das können wir als Wiederentdeckung verkaufen. Das erregt Aufmerksamkeit.“ Hat geklappt. Es sei ihnen vergönnt.