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Maulwerkers Inselglück

Dieter Schnebel: Utopien

Theater:Münchener Biennale, Premiere:17.05.2014 (UA)Regie:Matthias Rebstock

Es gehe in „Utopien“, seinem Musikalischen Kammertheater für sechs Vokalisten und Instrumentalensemble, keineswegs um bestimmte Utopien oder gar um alle. Es gehe viel mehr, so der 84-jährige Komponist Dieter Schnebel, „um die Utopie ihrem Wesen nach“. Das klingt nicht unbedingt beruhigend, denn solche Wesens-Erforschungen haben eine gewisse Neigung, sich im Esoterischen zu verlieren. Doch über derlei dogmatische Spiegelfechtereien ist dieser große alte Mann der neuen Musik, der ja immer auch ein liebenswerter Eigenbrötler war, längst hinaus. Eigentlich ist „Utopien“, uraufgeführt bei der Münchener Biennale für neues Musiktheater, finanziert von der ernst von siemens musikstiftung und koproduziert mit dem Konzertaus Berlin und Musik der Jahrhunderte Stuttgart, eine sehr entspannte und humorvolle Rückschau: auf den Utopismus der Musik im Allgemeinen und des eigenen Œuvres im Besonderen. In der Münchener Muffathalle erlebte man die Geburt eines neuen Werkes nicht aus dem Geist der Dringlichkeit, sondern einer Unbekümmertheit, die sich gern auch mal im Belanglosen verlieren und sich dann doch wieder zur ungeahnter Faszinationskraft aufschwingen kann.

Schnebel war schon immer ein verspielter Extremist der Vokalkomposition – der schöne Titel „Maulwerke“ für eines seiner wichtigsten Werke ist ebenso zutreffend wie der noch schönere Untertitel für Artikulationsorgane und Reproduktionsgeräte. Bei der Emanzipation des mit menschlichen „Artikulationsorganen“ und instrumentalen „Artikulationsgeräten“ erzeugten Geräuschs als musikalisches Material war er in den 70er Jahren wirklich einer der Avantgardisten. Alles, was bei Lachenmann, Czernowin oder Mark Andre gehaucht, gestammelt, gewimmert, gewispert, gebrüllt, geknurrt und gezischt wird, verdankt sich in irgendeiner Weise diesem Ursprung. Heute freilich ist es mit diesem Avantgardismus vorbei, die Schlachten sind siegreich geschlagen – auch diesem Wissen verdankt „Utopien“ seine Heiterkeit.

Es ist insofern völlig richtig, dass Matthias Rebstock und seine Ausstatterin Sabine Hilscher das Werk von der heiteren Seite nehmen. Wobei – ja: Es geht schon philosophisch zu. Da werden einschlägige Texte von Ernst Bloch, René Descartes, Thomas Morus, Sebastian Brant, Joseph Conrad, aus dem Johannes-Prolog und was nicht sonst noch alles rezitiert, es werden Glaube, Liebe, Hoffnung, Zynismus, Hass, Verzweiflung verhandelt; aber schon die ironisch pointierte Art, in der die wunderbaren Neuen Vocalsolisten Stuttgart das sprechen, entfacht den Verdacht, dass hier nicht ganz so heiß serviert wird, wie einst gekocht wurde. Schnebel und sein Ko-Librettist Roland Quitt haben das Werk in eine Einleitung, fünf „Gänge“ und vier Zwischenspiele unterteilt. In den Gängen verschafft sich das Schnebelsche Bewegungs- und Körpertheater Raum, in den Zwischenspielen wird tendenziell eher reflektiert, wobei Rebstock die Grenzen aber verwischt. Um ein Vorhang-Geviert herum, das zugleich die Bühne und den Nicht-Ort, das Paradies und das Tollhaus markiert, entspinnt er eine große Choreographie menschlicher Narreteien und Sehnsüchte, angesiedelt irgendwo zwischen den abstrakten Musiktheater-Choreographien der Ruth Berghaus, den Märchenszenarien Achim Freyers und Christoph Marthalers Schnurrigkeiten.

Zitate überall also, und allemal in der Musik, die von Theo Nabicht (Klarinetten), Yumi Onda (Violine), Zoé Cartier (Cello), Kai Wangler (Akkordeon), Matthias Engler (Schlagwerk) und den Stuttgarter Maulwerkern wirklich toll realisiert wird. Manchmal hat Schnebel die fremden Versatzstücke so zersplittert, dass man nur ahnt: Mensch das kennst du doch, und sich dann das Hirn zergrübelt, woher denn bloß. Den Dreivierteltakt-Tanz der freudigen Götterfunken, bei dem die Vokalisten zu siamesischen Zwillingswesen aus Mensch und Gliederpuppe werden, oder die angeschrägte Marseillaise identifiziert man natürlich sofort. Und wenn der Meister sich in Akkordbrechungen mit obligatem Trallala-Singsang ergeht, scheint er Arvo Pärts Neo-Sakralmusik und die US-Minimal-Music gleichermaßen zu parodieren. An den Gängen der Vokalsolisten-Akteure könnte das Ministerium für ausgefallene Gangarten des ambulanten Avantgardisten Monty Python mitgewirkt haben. Aber neben den skurrilen Momenten gibt es auch sehr intensive, und die Duett-Maulwerkerei der Sopranistin Sarah Maria Sun mit dem Tenor Martin Nagy, bei der einer den Mund des anderen als Resonanzraum benutzt, ist ein extrem intensiver Moment. Und irgendwann, wenn man denkt: na, nun reicht es aber auch – dann ist der Reigen tatsächlich zu Ende, mit der so alltäglichen wie bangen Frage: „Du kommst schon noch??!“ Auch das kann ja so manches bedeuten.