Text:Andreas Falentin, am 18. April 2016
Der Fonds Experimentelles Musiktheater in Nordrhein-Westfalen geht neue Wege. Erstmals wird die Entwicklung eines Projekts über zwei Jahre gefördert. Der Komponist Hannes Seidl und der Filmemacher und Regisseur Daniel Kötter, ein Team seit Jahren, entwickeln zusammen mit der Szenographin Rahel Kesselring unter dem schönen Arbeitstitel „Ingolf“ ein Stück mit dem und für das Musiktheater im Revier. Im Juni 2017 wird die Premiere sein. Bis dahin soll es fünf öffentliche Performances geben, die Entwicklungsstand und Materialfortschritt vorführen, die Beziehung mit dem Stadttheater dokumentieren und im besten Fall eine eigene Faszination entfalten sollen. Der Auftakt in Form eines Filmkonzerts lässt hoffen, dass dieser so frisch und schön gedachte Weg am Ende ein ebensolches Ergebnis zeitigen könnte.
„Ingolf“ ist Ingolf Haedicke, 70 Jahre alt, langjähriger Mitarbeiter des DDR-Rundfunks, später Leiter der musikwissenschaftlichen Phonotek an der Berliner Humboldt-Uni und heute noch Lehrbeauftragter dortselbst. Seidl und Kötter haben ihn einen Tag lang mit der Kamera begleitet. Kötter hat daraus einen gut 70-minütigen Film geschnitten, Seidl dafür eine Musik für vier Sopranistinnen und Keyboard entwickelt, die live aufgeführt wurde. Haedickes Alltag wird verändert und durchbrochen durch die Aufgabe, die ihm das Produktionsteam gestellt hat. Wie könnte für dich heute eine Oper aussehen?
Die vor allem als Sprungbrett gedachte Materialschau beeindruckt auf vielen Ebenen. Man dringt ein in Ingolfs Leben, ob man will oder nicht, glaubt fast zu riechen, wie es stinkt in der vom Kettenraucher bewohnten Ein-Zimmer-Wohnung mit der Nummer 501 irgendwo in Berlin-Mitte. Man sieht ihm zu, wie er Motorroller fährt, wie er freihändig ohne Auflage virtuos Brot schneidet, wie er sich löslichen Kaffee bereitet und sich Gemüsegurken aufs Butterbrot legt, wie er abends lange zur Kneipe geht, etwas trinkt und sich auf den Rückweg macht. Und wie er bastelt. Das tut er hauptsächlich. Sich abarbeiten an alten Platinen und Radioresten. Fehler finden. Klang erzeugen und restaurieren. Durch die Ritzen dieser erfüllten und egozentrischen Selbstgewissheit lugt Einsamkeit. Und dazu machen unerbittlich Uhren und kinetische Skulpturen ihre gleichförmigen Geräusche in der kleinen Wohnung.
Und die Oper? Die soll archaisch sein, laut Ingolf, und spektakulär. „Zur Not Feuerschlucker auf der Bühne“. Kinderstimmen findet er wichtig und Volkslieder. Da verstehe man den Text. Es soll viel passieren. Am besten vor dem Theater. Man müsse eine Situation schaffen, in der jeder kommen und gehen kann, wie er will – und machen kann, was er will, zusehen oder essen. Die „Irrfahrten des Odysseus“ sind ein Stoff nach seinem Geschmack. Immer wieder spricht er von den Sirenengesängen, für ihn vor allem abstrakte Klangschönheit. Und von Trautonium und Theremin, frühen elektronischen Instrumenten, die für ihn diese Schönheit erzeugen könnten. Am Abend führt er vor, wie sich das anfühlen könnte, mit Selbstgebautem. Die eigenwilligen und einnehmenden Klangkaskaden werden übermalt von Hannes Seidls Musik, die den Film vorher begleitet, fast im Wortsinn vertont hat und hier die Führung übernimmt, gültig eine Reflexionsebene einzieht.
Das im Entstehen begriffene Musiktheater wird sich kaum nach Ingolf Haedickes Vorstellungen ausrichten. Und er selbst wiederum lehnt die Musik und Ästhetik Seidls und Kötters kategorisch ab. Was entsteht, wird also aus diesem Antagonismus entstehen, den offenbar alle Beteiligten hemmungslos und vor allem unverkrampft genießen. Auch das ist etwas Neues. Den Materialfortschritt begutachten kann man das nächste Mal am 4. September, im kleinen Haus des MIR.