Foto: Momo (Anna Woll) streichelt die Schildkröte Kassiopeia (Ina Bures). © Christian POGO Zach
Text:Roland H. Dippel, am 21. Dezember 2018
Das Schönste an diesem Musiktheaterabend ist die Schildkröte Kassiopeia: Ina Bures steckt in einem von den Werkstätten des Gärtnerplatztheaters liebevoll gestalteten Panzer der Helferin, die auf Wanderungen durch Raum und Zeit genau eine halbe Stunde in die Zukunft zu blicken vermag. Und das wichtigste Geheimnis in dieser Uraufführung über die Zeit (besuchte Vorstellung: 20.12.) ist, wie die Schriften auf Kassiopeias Rückenpanzer aufleuchten und diese Momo geleiten, wenn sie die Menschheit vor den aschgrauen Zeitfresser-Herren rettet.
Mit dem als „Familienoper“ beworbenen „Musiktheater in 18 Bildern“ erfüllte sich Wilfried Hiller, bedeutendster Schüler von Carl Orff (gest. 1982) und wichtigster Musiktheater-Partner des Jugend-Longsellerautors Michael Ende (gest. 1995), einen langjährigen Herzenswunsch. „Momo“ ist ein weiterer Stein in der langen Kette seiner Gärtnerplatz-Uraufführungen seit „Der Goggolori“ (1985). Ein Riesenerfolg gemessen am Jubel jugendlicher Besucher, aber mit nicht ganz so stark bewegtem Widerhall bei der Generation, die mit dem Roman, dem Film von Johannes Schaaf und anderen „Momo“-Adaptionen aufwuchs. Den Älteren fehlte etwas an dieser mit vorbildlicher Korrektheit, aber zu wenig romantischer Entgrenzung gestalteten Produktion.
Kaum von Sonnenglut erwärmt wirkt Momos Amphitheater nahe einer großen Stadt im Süden. Aus dessen Steinen bilden Karl Fehringer und Judith Leikauf später einen Zeittunnel ins Reich des (von Michael Ende so definiert) der fernöstlichen Philosophie verpflichteten Meister Hora. Dieser ist hier ein sich vom Greis zum androgynen Guru verjüngender Tänzer (Matteo Carvone), seine Stimme tönt mit künstlichem Hall aus dem Off (Chöre: Felix Meybier). Effekte gelingen visuell besser als akustisch: Wenn die Produktion sekundenweise an Fiktionen Steven Spielbergs und frühe Scores von Hans Zimmer erinnert, wird es opulent. Aber der wichtige Dialog Horas und Momos über das Geheimnis der Stundenblumen im Innern der Menschen hat Längen. Mit bizarr erleuchteten Gesichtern steht das vom extremen Koloratursopran (Ilia Staple) bis zum Bassbariton (Martin Hausberg) virtuos agierende Madrigalensemble der grauen Herren einer Gesellschaft gegenüber, die durch die Zivilisationskrankheit „Zeitmanagement“ bereits sehr gleichgültig geworden ist. Zwischen Glück und Zwang mangelt es der Inszenierung aufgrund von sehr geradlinig gebauten Situationen über weite Strecken an dramatischen Kontrasten.
Im Vorfeld legitimierten Komponist und Textdichter mehrfach ihr Projekt. Abgesehen davon, dass Michael Ende wohl nie ein Wort wie „Stress“ in seine Prosa oder Lyrik hätte rutschen lassen, ist das Libretto des musicalerfahrenen Wolfgang Adenberg ein bühnenwirksamer Wurf: Alle wichtigen Szenen sind integriert, Fakten und Dialoge wurden ohne Verzicht auf Wesentliches verknappt und es gibt auch einige atmosphärische Episoden wie den von Momo in der Phantasie der Kinder entfachten Seesturm. Da lassen Meike Ebert und Raphael Kurig (Video mit Vollbeschäftigung des Ensembles) im Hintergrund Wassermassen toben. Auch eine Stärke: Obwohl Momos Kunst die des aktiven Zuhörens ist und ihre Sprechrolle sich entsprechend überwiegend in kurzen Sätzen artikuliert, bleibt sie der Mittelpunkt; Anna Woll hält sich mit perfekter, dabei nie outrierter Präsenz unaufgeregt bis zum Schluss. Tanja Hofmanns zeitloses Kostüm mit Fleckenrock positioniert Momo zwischen Disney‘s Schöner (ohne Biest), kleiner Hexe und Ronja Räubertochter.
Besteht so wenig Vertrauen in Endes geschärft brisante Warnung vor unmenschlicher Hetze und Alltagsoptimierung, dass das Geschehen zur erzählten Geschichte gemacht werden muss, an die Momos Freund Gigi erinnert? Harmonie, Bedrohung und abenteuerliche Rettung verschwimmen unter Michael Heidingers oft sehr flächigem Licht. Wilfried Hillers Musik illustriert die von ihm zu Melodramen gesteigerten Dialoge mit wie immer feingliedriger Instrumentation: Tonschalen erklingen bei Meister Hora, für Momo und Kassiopeia verspricht er mit irisierenden Bläserkombinationen Kantilenen, die dann doch nicht kommen. Den größten „Vokalpart“ hat die in der Proszeniumsloge spielende Solo-Oboe. Für den Dirigenten Michael Brandstätter wird die Partitur zur Reaktionsschnelligkeit einfordernden, doch insgesamt etwas undankbaren Aufgabe. Denn es fehlt genau das, was man bei einer Oper über die Zeit wohl am innigsten ersehnt: eine Musik, die über die Zeit siegen will, indem sie die Ebenen der realen, der poetischen und der erzählten Zeit vergessen macht. Die Stundenblumen bleiben Materie ohne Metaphysik.
Selbst wenn die kurzen Ensembles der grauen Herren kunstvolle Ansätze zeigen, gibt es kaum Unterschiede zwischen dem freien Fremdenführer Gigi und seiner zermürbenden Existenz als Schlagerstar: Maximilian Mayer will vielleicht auch gar nicht zwischen schmalspurigen Puccini-Paraphrasen und der müden Neue-Deutsche-Welle-Parodie differenzieren. Für Momos anderen besten Freund Beppo den Straßenkehrer (Holger Ohlmann) wie den Friseur Fusi (Frank Berg) fallen gar keine Melodien ab. Chor, Kinderchor und Statisterie haben reichliche Aufgaben. Im Finale dieser erfolgreich gemeisterten Suche nach der verlorenen Zeit drängen sich alle in der prosaisch fragmentierten Ruinenherrlichkeit von Momos Amphitheater. Der Vorhang zu und wieder einmal viele Fragen offen über Bildung und Vorbildung im Familientheater. Beim Erscheinen der perfekten Puppe Bibigirl (Caroline Adler) und deren schon kämpferischer Konsumgier ertönt umfänglich Offenbachs Arie der Puppe Olympia, steht als Zitat an der Stelle eigener Musik. Was das eigentlich für ein dumpfer, trauriger Moment ist, wenn die optimistische Momo zum allerersten Mal in ihrem Leben Langeweile spürt, findet man im Roman von Michael Ende.