Foto: Das Liebespaar aller Zeiten: Mario Neumann und Nina Steils als Romeo und Julia © Jochen Quast
Text:Dieter Stoll, am 10. März 2017
Man weiß ja nicht wirklich, was der Opern-Tourismus inzwischen mit Verona alles angestellt hat, aber vermutlich wurden bisher noch nie Maßkrüge geschwungen, während der Konflikt zwischen den Montagues und den Capulets allmählich eskaliert. Doch diesmal hat der weltliterarisch gewundene Weg in den vereinten Tod des nach wie vor berühmtesten Liebespaares seit Adam und Eva unverkennbar oktoberfestliche Züge. Vor weißblauem Rauten-Horizont ziehen sich sauber aufgereihte Spaliere von Biertischen und Bänken aus der Bühnentiefe bis weit ins Parkett. Aber nein, die Erlanger Neuinszenierung von William Shakespeares „Romeo und Julia“ spielt nicht in einer italienischen Hofbräuhaus-Filiale, sondern mitten in Bayern zu jenen Wirtschaftswunderzeiten, als in der Lederhose noch kein Platz für den Laptop war und von politischen Schelmen der Begriff „Gastarbeiter“ erfunden wurde. Romeos Papa betreibt die Trattoria Da Montague, für die er mit windschiefer Leuchtreklame wirbt. Die Anführer von Julias Capulet-Sippe (echte Münchner oder einfach nur gnadenlos im Trachtenlook assimiliert, man erfährt es nicht genau) hängen ein Toiletten-Schild drüber und rufen „Spaghettifresser“ nach alter Rechtschreibung. Der Zoff kann beginnen, schon die erste Schlägerei (Kampfchoreographie: Axel Hambach) hat die krachende Erkenntnis von vielen Fäusten und jeder Menge Halleluja.
Regisseur Eike Hannemann, in Erlangen und Nürnberg als Meister der kleinen Form („Werther“, „Winnetou“) gefeiert, ist beim Wechsel ins Großformat sichtlich besorgt um jeden Quadratmeter Nutzfläche. Die weit über zwei Etagen aufgerissene Einheitsbühne von Birgit Stoessel hat lange Wege und viele Bedeutungen. Zunächst mal wird Stimmungsmusik gemacht. Schallte grade noch die deutsche Sehnsucht nach der roten Sonne von Capri durchs Haus, gekontert von Adriano Celentanos rauer Kehle, geht es alsbald mit „Rosamunde“ zur Sache. Wo im Original ein Ball stattfindet, ziehen hier johlende Statisten-Polonaisen mit angewachsenen Steinkrügen ihre Promille-Spur durch die Gänge. Allzu gefährlich wirken sie nicht, die Bierpreiserhöhung scheint kein Thema zu sein und auf Pizza Speciale kann man sich wohl auch schon einigen.
Danach wird der Dekoration ein zweites Leben eingehaucht. Von nun an ist sie überwiegend abstrakter Kunstraum, schafft Platz für jede Situation. Zwischen den Bänken treffen Romeos schlagfertige Freunde (Martin Maecker und Charles P. Campbell pointensicher in gekonnt ausgekosteter Zyniker-Pose) auf den brutalen Tybalt (Benjamin Schroeder als Haudrauf), hier pflegt auch Pater Lorenzo seine rein pflanzliche Theologie. Hermann Große-Berg spielt den bewusstseinserweiternden Mönch mit dem Drogen-Gärtchen in aller Rezeptfreiheit als vorweggenommenen Altachtundsechziger, der dem jungen Liebhaber die bevorstehende Verbannung nach Italien (!) schmackhaft macht: „Nennen wir es Rückführung“. Auch die Balkonszene samt Liebesnacht muss es sich notgedrungen im nun stilisierten Biergarten einrichten – und geht dabei fast verloren.
Mit Mario Neumann und Nina Steils hat die Aufführung ein Titelpaar, das noch ganz andere Regie-Konzepte vor dem Absturz retten könnte. Er ist der schwärmerische Junge mit der Temperamentsquelle am offenen Herzen, sie die wie vom Blitz getroffene wunderbar Naive. Beide spielen das hinreißend und erfassen dabei am besten die munteren Wendungen der Übersetzung von Oliver Karbus. Herrlich, wie da beim Wechsel von der freien zur locker gebundenen Sprache die Reime wie Schaumkrönchen glitzern. Neumann und Steils sind das zentrale Ereignis der Aufführung.
Regisseur Eike Hannemann hätte ihnen noch mehr vertrauen können. Er baut Effekte um sie herum als ob Schutzmauern nötig wären, doppelt die Stimmungen mit vielen tiefen Griffen in die Oldie-Hitparade von Peter Alexanders „Rosamunde“ bis Leo Leandros‘ „O Mustafa“ (immerhin, „Zwei kleine Italiener“ kommt nicht vor, Respekt!) und kann die einzelnen Szenen-Versatzstücke, die aus solchen Einfällen entstanden, oft nur mit dicken Nahtstellen verbinden. Unterhaltsam bleibt das allemal, es ist ja immer was los. Wenn die Tragödie den Witz überlagert, wird es brutal, da gibt es keine Gnade. Nicht nur das blutige Gemetzel im krachend körperlich ausgeführten Prügeln, siehe Kampf-Choreographie, sondern auch die nervenzerrend vorgeführte Doppel-Vergiftung. Wenn Julia aus ihrer todesähnlichen Betäubung erwacht, kann sie dem verzweifelten Romeo noch zusehen, wie er den frisch gemixten Selbstmord-Trank schluckt – und muss ihm folgen. Ein Bezug zur Konkurrenz von Pizza und Maßkrug ist da nicht mehr denkbar, aber für die Rückkehr zum Theaterspiel, die Shakespeare als rahmenden Trost vorgesehen hat, sieht die Aufführung auch keinen Anlass. Sie lässt sich am Ende in Hoffnungslosigkeit fallen. Was dem amüsierfreudigen Premierenpublikum nur für Sekunden den Atem raubte – dann gab es viel Beifall. Und fürs Titelpaar angemessene Bravo-Rufe.