Foto: Ensemble in Damian Gmürs „Wolken die uns nicht tragen“ © Sabine Haymann
Text:Eckehard Uhlig, am 11. Mai 2019
Am Einlass weist ein zackiger Kapitän in Galauniform das drängelnde Publikum ein. Doch hier geht es nicht zum Käptens-Dinner auf ein Traumschiff, sondern zur 4. Ausgabe von TANZ PUR, der zeitgenössisch innovativen Veranstaltungsreihe des Theaterballetts. Die findet diesmal im „360-Grad-Gasometer“ statt, in einem vom früheren Pforzheimer Stadtgas-Speicher zur Event-Kultstätte umgebauten Monument, wo zur Zeit der Künstler und Architekt Yadegar Asisi sein imposantes „Great Barrier Reef-Panorama“ zeigt. Die spektakuläre Rotunde mit den farbigen Unterwasser-Korallen-Steilwänden bildet fantastische Raumkulissen und -situationen aus, ohne die gebotenen Tanz-Aktionen zu erdrücken. Ganz im Gegenteil: Das einer australischen Tiefsee-Landschaft nachempfundene Rundbild belebt und bietet den Zuschauern auch von seinem in der Rotundenmitte errichteten Aussichtsturm originelle Perspektiven auf die sich tänzerisch abarbeitenden kleinen Menschen.
In dieser maritimen Umgebung landen die Pforzheimer Compagnie und ihr Chef, Ballettdirektor Markowitz, offensichtlich am gewünschten Ufer – nämlich bei einem Tanztheater, das zwischen theatralisch verspielten und balletteusen Szenen changiert. Das eingangs auf der spiegelglatten Grundfläche des ehemaligen Gaskessels präsentierte Tanzsolo mit dem Titel „Meanwhile“, das von dem schwedischen Tänzerkollektiv des Pforzheimer Kooperationspartners aus Linköping choreografiert und von Eleonora Pennachini (alternativ von Evi van Wieren) frei improvisierend ausgestaltet wird, kreiert zur Hintergrundmusik von Serge Gainsbourgs „Je t‘aime“ und der abschließend leise aus einem Radioempfänger singenden „Bohemian Rhapsody“ verqueres Bewegungsgeschlängel eines Meeresbewohners. Das quallenartige Geschöpf im seidig weiß leuchtenden Outfit spielt mit seinen Kostüm-Tentakeln oder Kugeln aus verfilztem Tang und Muschelkalk und sucht interaktiv Partner im herumstehenden Publikum.
Das zweite Stück des Abends, Damian Gmürs Choreografie „Wolken die uns nicht tragen“, wird mit „one, two, three“ scharf angezählt. Harte Schlagrhythmen und Geräuschlärm lösen bei zwei Paaren, die einen scheinbar leblosen, an einem vom hochhaushohen Gasometer-Dach herab baumelnden Seil aufgehängten Menschenkörper umkreiseln, einen erregten Tanz-Tumult aus. Zu Wassergeplätscher, Heulbojen-Klängen und Stampfen, das von Schiffsmaschinen herrühren könnte (Soundtrack: Fabian Schulze), wechseln die Protagonisten von Angstzittern und spastischem Gezappel zu zerdehnten Zeitlupen-Sequenzen, vom Wiegeschritt zu verschrobenen Tanz-Figurationen, von Angstzittern zu weiten Ausfallschritt-Kombinationen. Paartänze enden in verzerrter Boden-Gymnastik. Wut und resignierende Traurigkeit liegen dicht beieinander. Und immer schwebt der am Seil Aufgehängte in ihrer Mitte. Zuweilen stoßen ihn die Akteure zu neuem Schwung, bis er kopfüber taumelt, und wirbeln dazu in wahnwitzig verschraubten Drehern. Dann sind Schüsse zu hören, die Tänzer bleiben erschöpft am Boden liegen und Meeresrauschen rollt in wuchtigen Brechern über sie hinweg.
Nach der Pause verwandelt sich das Pforzheimer Gasometer in ein versunkenes Schiff. Edan Gorlickis Choreografie „Diving The Yongala“ umspielt in facettenreicher Vielfalt von theatralischen und vertanzten Szenen eine unheimliche Havarie, die sich tatsächlich ereignet hat: Infolge eines Zyklons sank am 23. März 1911 vor der Ostküste Australiens die „SS Yongala“. Von den 122 Passagieren und Besatzungsmitgliedern wurde kein einziger geborgen oder an Land gespült. Publikum und Tänzer begegnen sich auf dem Havaristen. Während die mit Taschenlampen ausgestatteten Zuschauer aus den dunklen Gasometer-Katakomben über Stufen und Emporen des Panorama-Aussichtsturms bis zum Schiffsdeck aufsteigen, kämpfen die ertrinkenden Passagiere um ihr Leben, vereinen sich in letzten verzweifelten Liebestänzen. Auch wird das versunkene Wrack von Geisterwesen heimgesucht und von sportiven Tauchern durchstöbert. Die musikalisch von einer Collage aus den Alben „Dyad 1909“, „The Fauna and Flora of Vatican City“ und „Memoryhouse“ wirkungsmächtig beschallte Untergangsdramatik mündet in eine choralartig dröhnende Totenmesse ein, die vom Ensemble tänzerisch eindrucksvoll zelebriert wird.
Die Pforzheimer Choreografen und Ausstatter (Kostüme: Katharina Andes, Licht: Andreas Schmidt) haben sich kongenial von dem besonderen Aufführungsort inspirieren lassen, der Auszug aus dem traditionellen Theaterhaus hat sich gelohnt.