Foto: AdeleEmil Behrenbeck, Christian Simon, Jorien Gradenwitz, Lilian Heeb und Georg Santner (v.l.n.r.) in "Euromüll" am Landestheater Marburg © Jan Bosch
Text:Michael Laages, am 8. Oktober 2023
In „Euromüll“ am Hessischen Landestheater Marburg trifft die Bürokratie der Europäischen Union auf Western-Klischees. Die beiden Ebenen helfen sich nicht immer, aber es ist schön, dass sich ein deutsches Theater kritisch mit der EU auseinandersetzt.
Immerhin ist diesmal nicht – wie derzeit so oft auf Theaterbühnen – gleich die Welt an sich zum Untergang verurteilt. Aber auch das neue Stück „Euromüll“ der Dramatikerin Ivana Sokola an der Hessischen Landesbühne Marburg klingt stark nach Abgesang: Bei ihr ist die Europäische Union, wie sie sich entwickelt hat seit Schuman-Plan, Montanunion und den Römischen Verträgen, unter immer neuen Lasten und Verantwortlichkeiten spätestens seit den Erweiterungen der Nachwendezeit in Unbeweglichkeit erstarrt und abbruchreif. Noch vor dem geplanten Zuwachs weiterer Staaten auf dem westlichen Balkan oder gar der Ukraine ist sie nicht mehr zu reformieren, sagt die Autorin. Damit gehört die EU eigentlich abgeschafft.
EU-Krise als Western
Aber was dann? Als sich die fünf europäischen Figuren im Stück „Euromüll“ schlussendlich von den EU-Szenarien verabschieden, träumen sie doch noch einmal von der Gemeinschaft der Freien – wie die Gründermütter und -väter vor so vielen Jahrzehnten. Wo er aber herkommen soll, dieser Neuanfang – keine Ahnung.
Ivana Sokola und das Marburger Uraufführungsteam um Regisseurin Lea Maria Balzer haben zwei Handlungs- und Erzählstränge miteinander verzahnt und verwoben, die natur-gemäß wenig bis gar nichts gemeinsam haben: den Innenblick auf ein Projekt, an dem die Euro-Bürokratie in jüngeren Jahren mit großer Beharrlichkeit strukturell gescheitert ist und eine krude Western-Geschichte. Der Mix macht‘s – denn diese Misch-Methode bewahrt die Inszenierung vor allzu viel papierener Polit-Analyse. Die Kolportage im Western-Stil fordert zwar ständige gedankliche Übersetzungsenergie vom Publikum, hebt das Desaster, von dem eigentlich die Rede ist, auf durchaus entspanntes Niveau. Ein Krimi hätte ähnliche Effekte – auf den setzen ja fast immer Fernseh- und Film-Fantasien, wenn sie die politische Strukturen thematisieren wollen.
Menschen mit europäisch klingenden Namen und Cowboy-Attitüde treffen sich auf der Marburger Bühne. Foto: Jan Bosch
Drama um Einweg-Strohhalme
Im Kern von Sokolas Text steckt der Streit um den Strohhalm – und damit die Bemühungen um Müllvermeidung in der EU. Wer etwas weiter zurückdenkt, wird sich an die Kämpfe (und Krämpfe) um den Zwang zum Flaschenpfand vor einem Vierteljahrhundert erinnern. Und da war die Erweiterung der EU in Richtung Osten noch in der Planung, Blockaden aus Ungarn oder Polen gab’s noch nicht. Drei Figuren mit europäisch durchmischt klingenden Namen sind im Stück schon Teil des EU-Systems, das dank immer neuer Komplikationen nicht recht voran kommt mit Müllvermeidung und Strohhalm-Verbot. Eine neue, junge Kollegin kommt hinzu und beginnt sich zu positionieren mit der Hoffnung auf Reform. Von außen schließlich beobachtet ein Journalist den ewigen Nicht-Fortschritt.
Zu sehen aber ist, in Szene und Kostüm, die Fassade einer Westernkneipe mit Gattern davor. Der Laden heißt „The Fountain“ und suggeriert also, dass hier vielleicht mal eine Quelle war. Die ist aber längst ausgetrocknet – hinten links steht einer jener Spiel-Automaten, wo per gesteuertem Greifarm Dinge herausgezogen werden können – der Kasten ist aber voller Wüstensand. Gegen Ende werden darin Reste eines Pferdes ausgegraben: als „Leiche im Keller“ von Western-Sheriff und EU-Bürokratie.
Das Stück „Euromüll“ in Marburg will tief in die EU-Bürokratie eintauchen. Foto: Jan Bosch
Theater mischt sich endlich in Europa ein
Die Übergänge zwischen den Ebenen sind nicht immer deutlich auf Anton von Bredows Bühne; und natürlich hat die Western-Anmutung auch in den Kostümen deutlich mehr Wirkung als die Geschichte vom „Euromüll“ dahinter. Die Effekte sind ja auch im Wortsinne knallig – wenn etwa die Barfrau (von einem Mann gespielt) den „Kopfgeldjäger“ (eine Frau) mit ziemlich vielen Pistolenkugeln „bedient“. Die Western-Idee, sagt Regisseurin Lea Marlen Balzer im Programmheft, sei eigentlich vor allem „ein Spaß“ gewesen, den sich Team und Autorin geleistet hätten. Sie ist schlussendlich ziemlich dominant auf der kleinen Bühne des Marburger Theaters. Das ist auch das Verdienst des Marburger Ensembles, das sich sehr frech und flott (und voller kleiner, feiner Ironien) in das doppelte Abenteuer stürzt.
Aber auch Autorin Sokola setzt sich durch: streng mit Stolpersternchen versieht sie die gesprochene Gendersprache und entwirft dabei fantasiesatte Blicke in das zwanghaft in sich selbst und viele Abhängigkeiten verstrickte System namens EU. Deren Entscheidungsebenen bleiben für’s Publikum zu entschlüsseln: „B“ steht natürlich immer für Brüssel und „S“ für Straßburg, wo das Europäische Parlament zu Hause ist, das nächstes Jahr neu gewählt wird. Speziell für diese Wahl interessiert sich das EU-Volk bekanntlich viel zu wenig. Auch Kultur-Menschen hoffen zwar oft auf Geld aus Brüssel, mischen aber selten wirklich mit in Europa.
Ivana Sokola zeigt in Marburg, dass es auch anders geht.