Foto: Szene aus Keith Warners Inszenierung von André Tchaikowskys "Der Kaufmann von Venedig". © Karl Forster
Text:Georg Rudiger, am 19. Juli 2013
Bis vor einigen Jahren gehörte es zur Dramaturgie der Bregenzer Festspiele, neben der Blockbuster-Oper auf der Seebühne eine Ausgrabung im Festspielhaus zu präsentieren. Die Auschwitz-Oper „Die Passagierin“ von Mieczyslaw Weinberg war 2010 die letzte großartige Entdeckung. Danach stellte Intendant David Pountney auf Uraufführungen von Auftragswerken um, was bislang nicht sehr erfolgreich war. Judith Weirs stumpfes Sozialdrama „Achterbahn“ (2011) konnte genauso wenig überzeugen wie Detlev Glanerts Science-Fiction-Oper „Solaris“ im vergangenen Jahr. Eigentlich sollte 2013 HG Grubers „Geschichten aus dem Wienerwald“ uraufgeführt werden, aber die Festivalleitung gönnte dem österreichischen Komponisten noch ein zusätzliches Jahr für die Orchestrierung. Nun stand mit André Tchaikowskys „Der Kaufmann von Venedig“ eine Oper auf dem Programm, die beide dramaturgische Schienen bediente: Uraufführung und Ausgrabung.
Zwischen den Biographien von Weinberg und Tchaikowsky gibt es durchaus Parallelen. Beides waren Klavier spielende Wunderkinder, beide waren Juden – und setzten sich in ihrer Musik auch mit dem Judentum auseinander. Während der Russe Weinberg Warschau bereits direkt nach dem Überfall der Deutschen 1939 verließ, lebte der Pole Tchaikowsky, der am 1. November 1935 unter dem Namen Robert Andrzej Krauthammer geboren wurde, bis 1942 im Warschauer Ghetto, ehe er gemeinsam mit seiner Großmutter flüchten konnte. Der neue Name Tchaikowsky war überlebenswichtig. Nach dem Krieg startete er eine internationale Karriere als Pianist. Die große Leidenschaft von Tchaikowsky galt aber dem Komponieren. Seine Shakespeare-Oper „Der Kaufmann von Venedig“, die er bis zu seinem Tod am 25. Juni 1982 in Oxford fast vollenden konnte (nur 28 Takte Orchestrierung fehlten), war sein größtes Opus. Die zurückhaltend aufgenommene Uraufführung bei den Bregenzer Festspielen bringt nun ein respektables Werk ans Licht, das zumindest phasenweise große atmosphärische Dichte entwickelt und handwerklich solide gearbeitet ist.
Librettist John O’Brien hat Shakespeares fünfaktige Komödie auf drei Akte gekürzt und mit einem Epilog versehen. Der andauernde Szenenwechsel zwischen dem umtriebigen Venedig und dem lauschigen Landsitz Belmont findet in der Oper nur zwischen den Akten statt. Der Jude Shylock, der dem Kaufmann Antonio Geld leiht und im Falle einer möglichen Insolvenz ein Pfund seines Fleisches verlangt, wird in der Oper zur Hauptfigur. Adrian Eröd verleiht diesem Ausgegrenzten eine vielschichtige Charakterisierung. Sein flexibler, tragfähiger Bariton kann dabei enorme Wucht entfalten, wenn er seine zum Christentum konvertierte Tochter Jessica (glockenhell: Kathryn Lewek) verurteilt oder im Prozess Rache fordert. Antonio ist da ein eher schwacher Gegenspieler, was auch an dem feinen, aber zu dünnen Countertenor von Christopher Ainslie liegt.
Ashley Martin-Davis hat in Keith Warners stimmiger Inszenierung für den ersten Venedigakt drei silbern glänzende Schließfachwände auf die Bühne gestellt, die sich als mobile Elemente durch den ganzen Abend ziehen und auf der Rückseite auch mal Shylocks Wohnhaus darstellen können. Tchaikowsky Musik verleiht mit ihrer Motorik und Polyphonie dem geschäftigen Treiben des Wirtschaftszentrums einen passenden Klang, dreht sich aber auf Dauer auch ein wenig im Kreis und kann in ihrer spröden Polytonalität ermüden. Mit dem von Antonio geborgten Geld wirbt Bassiano (mit strahlendem, nur in der Höhe mattem Tenor: Charles Workman) dann endlich um seine angebetete Portia (stark: Magdalena Anna Hofmann) werben und findet im Irrgarten der Bewerber den richtigen Tresor. Sein Kumpel Gratiano (präsent: David Stout) schnappt sich Portias auch musikalisch attraktive Zofe Nerissa (Verena Gunz). Im dritten Akt gewinnt der dreistündige Abend, der durchaus Längen hat, dann die größte Intensität, weil auch Tchaikowskys Musik bei der Gerichtsverhandlung die größte dramatische Kraft entfaltet. Die Wiener Symphoniker, die die Partitur mit bewundernswerter Genauigkeit zum Klingen bringen, sind hier unter der Leitung von Erik Nielsen handlungstragend, wenn sie die Spannung in flirrenden Liegetönen in den Bläsern hochhalten oder emotionale Ausbrüche im Blech mit Vehemenz härten. Je durchsichtiger Tchaikowsky instrumentiert, desto mehr Reiz entfaltet seine Klangsprache, die bei den Solisten ganz auf die große Linie setzt. Am Ende verliert Shylock den Prozess und stürzt sich ins Grab. Man lebt in Venedig fröhlich weiter, als wäre nichts gewesen. Nur der lange, dunkle Streicherklang am Ende mag die Freude der Protagonisten nicht teilen.