Dabei widerstehen Parizek und das Ensemble von sieben, immer wieder musizierend das Spiel rahmenden Spielerinnen und Spielern der naheliegenden Versuchung, Ibsens altes Werk, diesen „nordischen Faust“ zynisch und politisch vereinfachend zu desavouieren; vielmehr stellen Textfassung, Inszenierung und Darstellungsweise eine intensive Auseinandersetzung mit dem Klassiker dar. In der kritischen Distanzierung entsteht da tatsächlich etwas Neues, Kreatives: Theaterkunst. Anna Drexler entwickelt faszinierend eine im Grunde gewöhnliche und doch vielschichtige Persönlichkeit: zunächst einen unsicheren und unsteten jungen Menschen (im Lügengespräch mit der Mutter, Michael Lippold), dazu einen großmäuligen Typen (etwa mit dem Bräutigam, Lukas von der Lühe). Gegenüber Anitra (Mercy Dorcas Otieno) gibt dieser Peer einen souveränen Macher, der gar nicht merkt, wie sehr er unter die Räder der/seiner Geschichte kommt. Geistig verwirrt wird er vom rheinländisch fröhlich-verrückten Irrenarzt Begriffenfeldt (Konstantin Bühler) weiter eingeschüchtert und von demselben Mann in der Rolle des fremden Passagiers und Todes zum sabbernden Greis und greinenden Baby befördert. Der Lebenskreislauf Peers kann sich allerdings nicht glatt runden, vielmehr erscheint die weitgehend angeschrägte Spielfläche als Tableau, das Peers Erlebnisse zu einer Rutschbahn macht. Immer wieder geraten der von Anna Drexler gespielte Peer und andere Figuren spielerisch oder ungewollt in die Schräge, bis hin zum Festklammern an der schrägen Grundlage.
Die Inszenierung findet also klare Bilder für ein verpfuschtes Leben. Und sie verankert es über eine künstlerische Auseinandersetzung mit aktuellen Fragen. Mit einem (englischsprachigen) Sermon weist die gerade noch von Peer als „Sklavin“ und „Hure“ verunglimpfte Anitra von Mercy Dorcas Otieno basierend auf dem (gar nicht so brandneuen, aber immer noch aktuellen) Text der ghanaischen Autorin Ama Ata Aidoo zurecht. Hier werden abendländische Rücksichtslosigkeit, Brutalität und geistige Beschränktheit ziemlich beeindruckend dargelegt und somit mit Peer verbunden. Der nächste Schritt der Klassikerentzauberung ist dann die Antwort Solveigs auf Peers hoffnungsvollen Besuch am Ende seines Lebens. Anne Rietmeijer gewährt keine Vergebung für den toxischen Mann. In dem von der Schauspielerin selbst geschriebenen Dialog macht sie sich auch die bekannteste Stelle des Dramas zu eigen, in der die Persönlichkeit des Mannes Peer Gynt als vielschichtige und irgendwie leere Zwiebel beschreibt – mit der Fragen an Ibsen und uns: „Warum darf in den Geschichten die Frau nie die Zwiebel sein?“ Sie beendet das Spiel mit der Feststellung: „Ich möchte Solveig nicht mehr sein,“ und mit einem traurig-erleichterten Lächeln.
Es folgen ein Black und ein stummes Verbeugen des hervorragend aufspielenden Ensembles auf der schrägen Bühne. Dieser „Peer Gynt“ ist ein inspirierender Theaterabend, weil er einen Klassikertext für die szenische Auseinandersetzung mit brennenden Fragen nutzt, dabei ein wahres Schauspiel bietet. Die einzige, aber nicht eben kleine Einschränkung besteht darin, dass die Online-Inszenierung naturgemäß kein Theater sein kann. Das intensive, auch „große“, theatrale Spiel in diesem „Peer Gynt“ unterscheidet sich deutlich von der Ästhetik von Zoomkonferenzen, Fernsehspielen oder Kurzfilmen am heimischen Digital-Bildschirm. Dieses Streamtheater – das bezeichnenderweise im Programmheft und auf der Homepage des Theaters die Verantwortlichen für die digitale Rahmung der Übertragung gar nicht nennt – ist also vermutlich nur interessant für mit Stadttheater sozialisiertes Publikum. Es ist eine Vorschau auf das Potenzial der Inszenierung im Schauspielhaus; faustisch gesprochen: ein „farbiger Abglanz“ des Theaterlebens.