Zu Homer und Jelinek kommen andere Texte wie Horkheimers scharfe Gesellschaftsanalyse in der Skizze „Der Wolkenkratzer“, die nicht nur lokale Ungleichheiten beschreibt, sondern auch weltweite Ungerechtigkeit, einschließlich der totalen Ausbeutung der Tiere. Die Erzählung „Die Marter der Hoffnung“ von Auguste Villiers d’Isle Adams, die weitgehend aus dem Kellerkerker übertragen wird, mag erst für Verwunderung sorgen. Dann zeigt sich zunehmend, dass das furchtbare Schicksal eines Rabbis zu Zeiten der spanischen Inquisition bestens zu den antisemitisch verschmierten Verschwörungsgespinsten der von Jelinek zu Wort gebrachten Stimmen passt. Castorfs dramaturgisch unerreicht assoziatives Theater braucht auch in dieser Inszenierung seine Zeit zur Entwicklung, auch wenn sie vergleichsweise kurz geraten ist – der gleichnamige Kanzler spielt übrigens auch eine lautstarke Rolle.
Den Aspekt der männlichen Schweinereien in Ischgl verstärkt die Inszenierung durch die ausführliche Kirke-Erzählung aus der Antike. So hat der teils von innen bespielte antikisierende Kopf eines Kämpfers, der auch zum Häuschen der Zauberin werden kann, seinen tiefen Sinn. Der Coronahotspot Ischgl erscheint – auch das ein deutlicher Unterschied zu Karin Beiers Uraufführung am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg – nicht direkt auf der Bühne, wird nur einmal über ein Fotobuch mit Abgründen von Sex und Ski, sichtbar, das die Darstellerinnen interessiert und verwundert durchblättern, – und er wird im musikalischen Hintergrund angedeutet.
Immer wieder erlaubt sich die Inszenierung stille Momente, ohne Film und ohne Zusatzton; und hier zeigen Mehmet Atesci, Marcel Heupermann, Dörte Lyssewski, Branko Samarovksi, Marie-Luis Stockinger und Andrea Wenzl, dass ihre phänomenale Präsenz nicht nur im lauten Live-Video, sondern auch im intensiven, stillen Spiel funktioniert. (Das schüchterne Schwein Edmund fällt bei seinem Kurzauftritt eher durch zarte Grunzlaute auf.) Das gesamte Ensemble spielt laut und leise stark auf; mit kleinen improvisatorischen Ausbrüchen wird die gemeinsame Theatervergangenheit von Lyssewski und Samarovski im Verhältnis eines älteren Mimen zu einer Anfängerin durchgestritten oder Mehmet Atescis Herkunft aus Berlin-Neukölln mit seiner hilflosen Männlichkeit als Odysseus lose in bösartige Verbindung gebracht. Auf der kleinen aber komplexen Bühne entsteht eine ungemein reiche Inszenierung, die mit theatralen Mitteln der Welt – und auch dem Land Österreich und seinem gesprächigen Kanzler-Helden – begegnet. Obwohl etwa nur zur Hälfte Jelineks Drama gesprochen wird, beschreibt der Abend beeindruckend in Jelineks Sinn, wie Corona das Symptom eines maroden Systems ist. Der alte Meister Castorf hat sich hier in seinen Mitteln keineswegs neu erfunden, aber mit befeuerten jungen und älteren Darstellerinnen und Darstellern entsteht ein grandioses, frisches und vielfältiges Krisen-Stück.