Foto: Kreon (Adrian Linke) und die „Mädchen“ in „Alles Weitere kennen Sie aus dem Kino" © Matthias Stutte
Text:Andreas Falentin, am 4. September 2022
Diese Aufführung ist ein weiterer Beweis für eine unwiderlegbare These: Die Antike wird auf den Bühnen einfach nicht alt. Die Verführung durch die Macht, das Ringen um eine funktionstüchtige und zukunftsfähige Form für einen Staat, die Konfrontation von politischem Handeln und persönlichem Schicksal, um die es bei Aischylos, Sophokles und Euripides geht, lassen uns offensichtlich bis heute nicht kalt.
„Alles Weitere kennen Sie aus dem Kino“ von Martin Crimp, 2013 in Hamburg uraufgeführt und von Ulrike Syha mit tollem Gespür für Details und vor allem bühnenwirksam übersetzt, ist eine Überschreibung der „Phönizierinnen“ von Euripides. Der griechische Dramatiker gestaltet hier den kompletten Ödipus-Stoff inklusive des Gründungsmythos der Stadt Theben an einem Abend. Die durch Sophokles‘ Dramatisierungen bekannten „Ödipus“- und „Antigone“-Tragödien werden wie nebenbei abgehandelt, im Mittelpunkt steht der Bruderkrieg der „Sieben gegen Theben“. Zentrale Figuren sind Iokaste, Ödipus‘ Mutter und spätere Frau und Mutter der sich bekriegenden Eteokles und Polyneikes, und ihr Bruder Kreon, der im Laufe der Handlung aufgrund einer Weissagung des Teiresias seinen Sohn verliert und am Ende als König einer zerstörten Dynastie übrigbleibt.
Der Chor als dramaturgisches Korrektiv
Crimp fasst Euripides‘ dramatischen Kommentar – die Handlung war dem damaligen Publikum bekanntlich sehr vertraut – in heutige, dennoch sehr poetische Sprache und passt die Geschichte an, wo sie in den letzten 2500 Jahren an Plausibilität verloren hat. Die größte Veränderung dabei betrifft den Chor. Besteht dieser bei Euripides aus den sein Stück betitelnden, durch den Krieg in Theben gestrandeten Frauen, also um einen Blick von außen, gibt es bei Crimp „einige Mädchen“, die sich hinterher (zumindest nach Ödipus‘ Ansicht) als eine Art Re-Inkarnation der Sphinx herausstellen. Vor allem sind sie für die „Einhaltung“ der Handlung verantwortlich. Sie treiben die Erzählung voran, wenn die Figuren abschweifen wollen, sie spinnen einen Rahmen, in dem sie mit teils absurden Fragen inhaltlich ein Gebiet abstecken und auf variantenreiche Weise heutige Vermittlungsstrategien durchdeklinieren.
Es ist das große Verdienst der Inszenierung von Christoph Roos, dass diese Thematisierung der Idee der Überschreibung an sich nicht nur klar herauskommt, sondern sogar Witz entwickelt, Spaß macht und so sinnlich wie behutsam in Richtung Tanz und Gesang verlängert wird, ohne sich vor das eigentliche dramatische Geschehen zu stellen. Die Funktion dieser „Mädchen“ wird dadurch akzentuiert, dass die vier wunderbar miteinander arbeitenden Schauspielerinnen Jannike Schubert, Kateryna Nazemtseva, Esther Keil und Paula Emmerich Puppenköpfe und Puppenkleider tragen (verantwortlich für die genauen Kostüme: Dietlind Konold). Ihre „Figuren“, die gelegentlich die Masken abnehmen, stehen eben über weite Strecken außerhalb der Handlung, sind dramaturgische Steuerelemente. Geistiges High-Tech-Spielzeug des Dramatikers.
Die Sprache als Kraftzentrum
Peter Scior hat einen offenen Raum gebaut, strukturiert von wenigen mobilen Ledersesseln, einer sichtbar im Nichts endenden Treppe und einer Wüstenlandschaft hinter einer Glaswand. Hier entfaltet Christoph Roos angenehm gelassen seine Vision von „Alles Weitere kennen Sie aus dem Kino“. Es ist seine erste Inszenierung als Schauspieldirektor am Theater Krefeld Mönchengladbach. Roos ist dies auf Wunsch des Ensembles geworden, was nach wie vor ein ungewöhnlicher Vorgang in der deutschen Stadttheaterszene ist. Und der Regisseur zeigt gleich, warum. Offensichtlich geht er sehr gerne mit Schauspieler:innen um, weiß, was sie können und hört ihnen gut zu. Und er arbeitet, formt die dramatische Sprache mit ihnen zusammen so, dass sie hineinzieht ins Geschehen, dass kein Satz, keine Phrase liegenbleibt oder weggesprochen wird.
Da gibt Esther Keil einen ungeheuer konzentrierten und gerade dadurch schillernd absurden Teireisias. Adrian Linke bündelt als Kreon all die Freudlosigkeit und Überforderung, die man mit dieser Figur verbindet und spielt darüber hinaus glaubwürdig einen inneren Kampf von Trauer um den Sohn und Rachegelüsten, Anstand und Willen zur Macht, der wuchert wie ein Krebsgeschwür. Und Nicolas Schwarzbürger und Cornelius Gebert liefern sich als Eteokles und Polyneikes ein Rededuell, dem man nahezu atemlos folgt – weil man beiden glaubt, was sie sagen. Dazu liefern Christoph Hohmann als doppelter Bote und Paul Steinbach als erst am Ende auftretender Odysseus frische, klare Miniaturen ab, die absichtsvoll das Clowneske streifen, bei Steinbach vielleicht sogar einen Schritt zu sehr.
Etwas schwerer haben es die Frauen. „Es sind immer überall Männer“, sagt Iokaste an einer Stelle. Eva Spott legt mit ihrem toll disponierten Anfangsmonolog das Fundament für diesen starken, auf angenehme Weise etwas altmodischen Theaterabend und ihre Trauer um ihre Söhne greift nach uns. Aber warum sie eher dem Eteokles zuneigt als seinem Bruder und was das eigentlich mit ihr macht, kann sie uns nicht zeigen. Da fehlt, schon im Text, der Zwischenschritt von der Antike zur Postmoderne über Freud, genau wie bei Katharina Kurschats sehr präsenter Antigone. Was sich zwischen ihren Auftritten in ihr tut, nehmen wir hin, nachvollziehen können wir es nur ansatzweise.
Trotz dieser kleinen Einwände ist „Alles Weitere kennen Sie aus dem Kino“ eine sehr sehenswerte Aufführung mit einer herausragenden Ensembleleistung. Sie interessiert, fasziniert das konzentrierte Publikum im vollen Theatersaal spürbar, bezieht bewusst Stellung zurzeit, in der wir leben – und lebt vor allem aus der Lust an der Sprache. Wie übrigens auch viele Arbeiten von Roos‘ Vorgänger Matthias Gerth. Es scheint also auch um Kontinuität zu gehen in Krefeld und Mönchengladbach.