Dafür hat Christian Schmidt nüchterne Herrschaftsräume auf die Bühne gebaut, so groß, dass die Menschen darin nur klein wirken und sich inmitten all der Türen und Winkel nur verlieren können. Und hier fragt Boccanegra jeden leise, ob er denn nicht Doge werden wolle; erstarrt, als das Volk gerade ihn, den Piratenbekämpfer, triumphierend zum neuen Herrscher ausruft. So ist Verdis Oper, die auf demselben historischen Hintergrund wie Schillers „Die Verschwörung des Fiesco zu Genua“ basiert, von Beginn an tragisch und traumatisch grundiert. Und Andreas Homoki folgt dieser Vorgabe, lässt nur im nüchternen Ambiente und den moderneren Kostümen die 1920er Jahre anklingen – mehr Aktualisierung braucht es nicht.
Doch bevor Verdis Werk im Livestream der Zürcher Sonntagspremiere sich entfalten kann, ist erst und nochmal in der langen Pause die enthusiasmierte Moderatorin Annette Gerlach zu ertragen. Über die „meisterhafte“ Technik – die Philharmonia Zürich unter GMD Fabio Luisi und der Chor agieren im Probensaal, die Solisten im entfernten Opernhaus –, die das so fabelhaft zusammenbringe. Überanimiert zischen bunte Linien durch den Pausenfilm, nicht Aerosole, sondern Kabel. Dabei gab es solche Zusendung der Klänge schon, als „Opern in Echtzeit“ Mode waren.
Bis auf wenige Ton- und Bildwackler im ersten Akt funktioniert das auch prächtig, hemmt die verwickelte Geschichte nicht. Denn da ist noch die verloren geglaubte Tochter – an der Stelle bebildert Homoki etwas zu oft den Text mit einem niedlich-ernsten kleinen Mädchen; da ist Paolo (Nicholas Brownlee), der den neuen Dogen erst fördert, dann als Rivale um Macht und Liebe herausfordert. Die endlich Wiedergefundene (Jennifer Rowley, im Tragischen überzeugender als im Lyrischen) verliebt sich in den Erzfeind Gabriele Adorno (Otar Jorjikia). Und immer wiederkehrend Verrat und Aufruhr, den Homoki meist aus dem Off ertönen lässt, der aber trotzdem Säle verwüstet. Einmal aber rauscht die wütende Menge an Boccanegra förmlich vorbei und der scheue Doge wird wieder seinen Hut der Macht aufsetzen, zögerlich.
Scheint dieser Nicht-Macht-Mensch einmal so etwas wie Glück zu ahnen, dann setzt die Harfe weiche Klangtupfer dazu; Fabio Luisi und die Philharmonia Zürich loten und kosten diesen stimmungs- und konfliktmalenden Verdi aus, spannungs- und bedeutungsvoll, aber nie triumphierend.
Deutlich zurückhaltender als die Moderatorin ist die Bildregie von Michael Beyer. Behutsam wechselt er von der Totale zur Nahaufnahme, die Kamera „läuft“ der sich oft drehenden Bühne nicht nach, sondern lässt die Raumwirkung zu. Das bekommt der fast dreistündigen Inszenierung gut, in der der zum Patrizier gewordenen Plebejer Simon Boccanegra mehr und mehr zwischen beiden Fronten steht. Christian Gerhaher mag noch so flammend klagen, noch so leise-eindringlich an Frieden und Liebe mahnen. Dieser Doge wird absehbar scheitern – da trauert sogar sein abgesetzter Vorgänger Fiesco (Christof Fischesser mit einem fulminant gesungenen Sündenregister in der packenden Schlussszene) um Simon Boccanegra.
Die 50 Zuschauer im Zürcher Opernhaus, die die Schweiz erlaubt, gaben sich viel Mühe, wie ein ausverkauftes Theater zu jubeln. Und die Sänger grüßten in den Souffleurkasten, wo das Orchester per Bildschirm zu sehen war.
Der Stream ist via Arte Concert abrufbar.