Foto: Jasper Brandis inszeniert in Hamburg Thomas Bernhards "Ritter, Dene, Voss". Sie lieben und sie hassen sich: Ulli Maier (Ritter), Imogen Kogge (Dene) und Markus Boysen (Voss). © Anatol Kotte, Bo Lahola
Text:Jens Fischer, am 23. Mai 2016
„Der Zweck der Philosophie ist die logische Klärung der Tatsachen“, und das geschehe im „Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel der Sprache“, schrieb Philosoph Wittgenstein. Und weiter: „Alles was überhaupt gedacht werden kann, kann klar gedacht werden. Alles was sich aussprechen lässt, lässt sich klar aussprechen.“ Alles andere ist das Undenkbare, also das Unsagbare, damit das „Mystische“, das zu akzeptieren, über das zu reden aber Unsinn ist. Was unbefriedigt lässt. Denn zu wissen, wie zynologisch die Welt sich um sich selbst dreht, aber nicht zu verstehen, „dass sie ist“ – das lässt des Menschen Hirn nicht ruhen. Selbstzerstörung, philosophische.
Am Abgrund dieser Abrisskante des Bewusstseins arbeitete sich Thomas Bernhard ab. Und rückte in „Ritter, Dene, Voss“, benannt nach den Schauspielern der Uraufführung, gleich Ludwig Wittgenstein ins Zentrum. Verheimatet wird er dort, wo Geistesmenschen angeblich Narrenfreiheit genießen: auf dem Zauberberg der Psychiatrie. „Dene“, so die spärliche Handlung, holt „Voss“, also Wittgenstein, zurück zum Ursprung seines verhassten Seins, in die Familienhölle, die hier eine inzestuös aufgeladene Geschwisterhölle ist, gleichzeitig aber auch sediert von der Macht der Gewohnheit. Da eben alles, was klar gesagt werden kann, schon klar gesagt wurde, wird mangels anderer Möglichkeiten einfach weitergeredet. In melodisch ausschweifenden, variantenreich rhythmisierten Suaden.
Denen, so meinen ihre Fans, könne immer wieder gelauscht werden. „Diese Musik kann doch auch immer wieder gehört werden“, sagt „Dene“ in dem Stück über Beethoven. „Von mir nicht, es ist alles gehört, alles gesehen“, entgegnet die Schwester. Ein Zwiespalt, der auch die Rezeption von Bernhards Werken betrifft. Die Fans wollen den Spaß, den sie einst in den kreiselnd komponierten Sprachspielen hatten, gern immer noch mal erleben – und Theater erklären sich bereit, sich zu wiederholen. Dabei laufen die Texte schon einmal hohl. Auch „Ritter, Dene, Voss“ wird kaum aufregend neu gesehen, sondern im Vergleich zu Claus Peymanns Uraufführung (1986) nur teils etwas abstrakter, teils auch boulevardesker oder slapstickhafter inszeniert.
Mach’s noch einmal, Jasper. Damit haben die Hamburger Kammerspiele den Regisseur Jasper Brandis beauftragt. Ein Regiekraftwerk. Ihm wurden, nach Art des Hauses, auch aus dem Fernsehen und den guten alten Theatertagen bekannte Großmimen spendiert. Alte Meister. Ein Fest für die Schauspielkunst? Fraglos. Aber sonst? Die Bühne, das Todeskrankheitszimmer, bietet die geforderte „Jugendstilperversität“, in diesem Fall Klimt-Gemälde und Leuchterschnörkelei in dunkel holzgetäfeltem Halbrund. Rote Vorhänge zeigen: alles nur Theater. Auch ohne Drehbühne dreht sich alles um die Bühnenkunst. „Dene“ und „Ritter“ gehören zum Ensemble des Wiener Josefstadttheaters, „Voss“ hasst Theater. Und hassliebt die in Hassliebe miteinander alt werdenden Schwestern.
Sie suchen erstmal die Charakterkomödie unter all dem Inszenierungsplüsch. Ein heimtückischer Machtkampf hebt an, mit ständig wechselnden Siegerinnen. Imogen Kogge ist gegenüber Kirsten Dene das stilvollere Fürsorgemonster, „Menschlichkeitsgrößenwahn“, zeigt hausmütterliche Eleganz auch beim Serviettenfalten, Tisch decken, Gläser polieren – und zupft schamlustvoll altjüngferlich an der gescheitelten Betonfrisur, wenn sie sich an „den Schwanz des Bruders“ erinnert. Ulli Maier deutet ihre Rolle herausragend anders als die flatterig zarte Verzweiflungskünstlerin Ilse Ritter, ist resolut kapriziös, eine schnippisch intrigante Dame, zu stark im Denken, zu schwach im Handeln, in Selbstekel erstarrt. Aber so ruhig, so gelassen, so harmonisch wird das Gegeneinander miteinander gefeiert, dass der böse Witz nicht zündet, die wogende Sprachmusik nicht zum Klingen gebracht, die Todesfurcht in der Lebenslangweile nicht deutlich wird.
Der Auftritt Markus Boysens als umschwärmter, ja: vergötterter Bruder zerstört dann auch noch die Intimität des Schwesternduetts. Zuerst sehr reizvoll, Boysen und Maier sitzen am Tisch wie ein frisch verliebtes, altes Ehepaar. Aber dann wird’s grob: Ob dieser Ludwig (Wittgenstein) Verrücktheit spielt oder daran leidet, kann Boysen nicht verdeutlichen. Verheddert sich zwischen manieriertem und expressivem Spiel. Geht unter- und überkandidelt mit genießerischem Grienen und Gert-Voss-Imitationen an der Rolle vorbei. Spielfluss kommt so nicht auf. Schwankhaft überdreht gelingt immerhin die Brandteigkrapfen-Nummer: Ludwig zermalmt das Backwerk an seiner Schwestern statt und spuckt die Krümel als Ekelgeste wieder aus. Erst im 3. Akt aber wird das Tempo angezogen und der eifersüchtige Austausch von Bosheiten verdichtet – schon regt sich Gelächter im Premierenpublikum. Und rettet der Produktion die Schlussovationen.
Alles nochmal gesagt, alles noch mal gezeigt. Die Bilder hängen final zwar verkehrt herum an der Wand, eine Kommode ist etwas verrückt und reichlich Porzellan kaputtgegangen. Aber alles bleibt wie es war. Abwarten. Tee trinken. Bügeln. Letzte Sehnsucht: ein verregneter Nachmittag im Bett. Macht der Gewohnheit. Wirklich interessant ist das nicht mehr, Bernhard so im Kammerspielmuseum zu sehen. Auch weil es kein echt überwältigender Brandis wurde. Nur einfach unkompliziert.