Foto: Puccinis "Tosca" am Theater Pforzheim. Majken Bjerno (Floria Tosca) und Hans Gröning (Baron Scarpia) © Sabine Haymann
Text:Eckehard Uhlig, am 22. September 2014
Muss jede Generation die Opern-Klassiker neu erfinden, um dem Vorwurf musealer Inszenierungen zu entgehen? In Pforzheim, wo die Spielsaison mit Giacomo Puccinis „Tosca“ eröffnet wurde, zeigt man dem Zeitgeist mit seinen Regietheater-Volten die kalte Schulter. Regisseurin Bettina Lell und ihre Ausstatterin Sibylle Schmalbrock bevorzugen den traditionellen Stil.
Denn schließlich handelt es sich um einen realhistorischen Stoff, um den Tag nach dem Sieg von Napoleons Revolutionstruppen bei Marengo gegen die Habsburger und den mit ihnen familiär verbandelten Bourbonen-König von Neapel-Sizilien, um die Niederwerfung einer von revolutionären Heißspornen ausgerufenen „Republik Rom“ mit den brutalen Methoden der königlichen Geheimpolizei. Victorien Sardou hatte sein erfolgreiches Drama „Tosca“ in drei beieinander liegenden Handlungsorten der Altstadt Rom (Kirche Sant’Andrea, Palazzo Farnese und Engelsburg) angesiedelt, als Zeit den 17. Juni 1800 festgelegt und die Handlung zu einem nächtlichen Szenario aus Folter, Schmerzensschreien, Eifersucht, Verrat und Mord verdichtet. Puccini übernahm diese Struktur und verwandelte das Schauspiel mit den Mitteln der „Verismo“-Oper in Musiktheater von höchster dramatischer Spannung, aber auch durchdrungen von lyrisch gefeierten, verzweifelten Liebes- und Sehnsuchtsszenen.
Das Pforzheimer Theater-Team hält sich detailgenau an Puccinis Regieanweisungen, etwa im ersten Akt: „Die Kirche Sant’Andrea della Valle. Rechts die Kapelle der Familie Attavanti. Links ein Gerüst: darüber ein großes, mit einem Tuch verhängtes Gemälde. Verschiedenes Malgerät. Ein Esskorb.“ Hier, in dem düster-dunklen, Säulen-bestückten Kirchen-Gewölbe taucht der flüchtige römische Revolutionär Angelotti (in Pforzheim Spencer Mason) auf, um sich zu verstecken. Hier will auch der Maler Mario Cavaradossi (Niclas Oettermann) sein Gemälde der Maria Magdalena vollenden, das freilich, nachdem die Verhüllung gefallen ist, auf der Pforzheimer Bühne kitschig angekränkelt wie eine ausgeschnittene Heiligen-Skulptur wirkt. Hier singt Oettermann, der sowohl als lyrischer Tenor wie auch als „tenore di forza“ einen starken Eindruck hinterlässt, sein Auftritts-lied „Recondita harmonia“ (Wie sich die Bilder gleichen). Denn der Bildvergleich ist seiner Geliebten gewidmet, der Sängerin Floria Tosca (Majken Bjerno). Argwöhnisch taucht sie im Kirchengewölbe auf, weil sie annimmt, Mario, der dem Flüchtling Angelotti hilft, verstecke eine andere Frau. Schon hat Polizeichef Scarpia (Hans Gröning) die Spur des Flüchtigen aufgenommen und begibt sich ebenfalls in die Säulenhalle, verdächtigt (zu Recht) Mario als Fluchthelfer und entfacht Toscas Eifersucht – auch weil er sie begehrt und besitzen will.
Lell verwickelt ihre Protagonisten in ein lebendiges, psychologisch nachvollziehbares Spiel voller Grausamkeiten. Lässt etwa den Polizeichef mit sadistischer Freude die Wirkung seiner giftigen Intrigen und Folterdrohungen beobachten („Tosca e un buon falco“), ohne dabei die Verbindung von sex and crime zu überzeichnen. Sorgt szenisch im 2. Akt für durchschlagende Kraft von Marios „Vittoria“-Schreien, ohne die Brüll-Dramatik zu überdrehen. Auch Tosca wird in all ihren schwankenden Charakter-Facetten eingefangen: Im ersten Akt die Diva, die sich nach Zweisamkeit sehnt (klangschön in „Non la sosiri la nostra casetta?“). Im zweiten ihr Verrat und das sangliche Highlight des gesamten Abends, ihr Gebet und liegend vorgebrachtes Flehen um Marios Leben („Vissi d’arte“) sowie ihre Rache,als sie Scarpia im schmutzig weiß gekachelten Vorraum zur Folterkammer ersticht – übrigens setzt die Regisseurin hier auf digitale Errungenschaften und zeigt die verzerrten Gesichter per Video-Kamera und -Clip. Im letzten Akt dann das vermeintliche Glück der Errettung, das in dem sorgfältig herausgearbeiteten Liebes-Dialog mit Mario („O dolci mansuete e pure“) kulminiert. Schließlich das grandiose Schlussbild, als Tosca (nachdem ihr Geliebter von Scarpias hinterhältig angeordnetem Erschießungskommando getötet wurde) auf den Mauern der Engelsburg steht: Man sieht sie nicht springen, dafür aber einen von schwarzen Todes-Vögeln verdunkelten Himmel im Morgen-Grauen.
Es wäre unfair, in Pforzheim eine illustre Primadonna und Heldentenöre zu erwarten, wie sie die Geschichte der „Tosca“-Aufführungen bevölkern. Doch das städtische Musiktheater erbringt einen erstaunlichen Leistungsnachweis: fließend beredte Eleganz der Sänger-Protagonisten und stets angemessenes Musizieren der von Generalmusikdirektor Markus Huber geleiteten Badischen Philharmonie Pforzheim sowie der wuchtig-feierlich agierenden Theaterchöre. Außerdem Gespür für Bruchstellen und Theaterdonner, klangfarbliche Effekte und theatralische Stringenz. Höhepunkte der Premiere waren das mitreißend ausdrucksvolle, chorische Te Deum im ersten Akt oder Marios orchestral äußerst zart eingeleitetes und umspieltes Abschiedslied „E lucevan le stelle“ (Und es blitzen die Sterne). Den Pforzheimern gelingt Puccinis geniale Opern-Konzeption, eigentlich unvereinbare Gegensätze in einem Thriller zusammen zu zwingen: Lyrik in der Folterkammer.