Foto: Das Luther-Musical in Eisenach. Alexander di Capri als Lucas Cranach (Mitte), Matthias Jahrmärker als Martin Luther (vorn) und Ensemble © Christian Brachwitz
Text:Susann Winkel, am 17. Juni 2013
Auf so eine simple Idee muss man erst einmal kommen: Flugblätter, sich mehrend mit jeder an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg geschlagenen These. Die sachte tänzelnd hinabgleiten vom zweiten und ersten Rang des Landestheaters. Und unten im Parkett von gereckten Armen aus der Luft gehascht werden. Weil sie alle wissen wollen, was jener Doctor theologiae zu sagen hat gegen die verlotterte Kurie, während wuchtige Hammerschläge und ein Chor den Beginn einer neuen Glaubenszeit begleiten.
Das Hinaustragen von Martin Luthers Überzeugungen mit dem Wind in die Welt ist eine Schlüsselszene des Musicals „Rebell wider Willen“, das am Samstag in Eisenach zur Uraufführung gelangte. Man mag in der Stadt der Bibelübersetzung ein wenig früh dran sein. Erst 2017 wird an ein halbes Jahrtausend protestantischen Glaubens erinnert. Doch der Termin in der zweiten Hälfte der Lutherdekade ist klug gewählt. Selten war die Öffentlichkeit so sensibel für künstlerische Auseinandersetzungen mit der Reformation wie im Vorfeld des großen Jubiläums, ihre Aufmerksamkeit so geschärft wie derzeit von den Themenjahren und ihren zahlreichen Veranstaltungen. Erhält das aufwendige Auftragswerk die Gunst des Publikums, könnte es alle vier verbleibenden Dekaden-Sommer im Programm bleiben.
Und ganz danach sieht es aus nach der wunderbaren Premiere, deren fünfzehnminütiger Applaus Zeugnis gibt, wie bereitwillig sich die Zuschauer einließen auf die Inszenierung von Tatjana Rese und die Musik von Erich A. Radke. Auf jenes Rockmusical, das die verbürgten Ereignisse um Luther als Grundlage nimmt, um sie mit frei erdachten zu einer zweieinhalbstündigen Aufführung zu verweben, für die die kleine Eisenacher Landeskapelle unter Gastdirigent Carlos Chamorro Moreno um eine Rockband in klassischer Besetzung erweitert wird.
Den Rahmen für die Handlung, die sich von dem berüchtigten Gewitter 1505 auf dem Feld bei Stotternheim bis zur Heirat mit Katharina von Bora 1525 in Wittenberg zieht, bildet ein Porträtsitzen im Atelier Lucas Cranachs d. Ä. Dessen überdimensionales Bild des Reformators, das mittels Videoprojektion in einem den Bühnenraum einfassenden Holzrahmen erscheint, nimmt erst im Lauf des Abends Farbe an. So wie das Publikum erst verstehen muss, wie ein Provinztheologe wider seinen Willen zum Rebell, zur Identifikationsfigur auch blutig geführter Glaubensstreite werden konnte. Für dieses Aneignen und Umdeuten der lutherischen Ideen steht die Figur des Schriftgießers Stephan, gespielt von Tomasz Dziecielski. Er ist es auch, der die geistige Bewegung jener Epoche in das Heute weiterträgt, wofür ihn Rese und Radke die musikalische Attitüde eines Jim Morrison anheim geben. Ihm gehört der große Auftritt, das Verführen und Aufrühren der Menschenmassen, während Matthias Jahrmärker in der Partie des Reformators stets der Mann des Geistes bleibt, wenngleich einer, der dem deftigen Wort und dem leiblichen Genuss nicht abgeneigt ist. Das macht ihn auch für die schillerndste Figur des Stücks, den in vielfältigen Maskeraden auftretenden Teufel, angreifbar. Stefan Poslovski spielt ihn als potenten Schalk, dessen propagierter lockerer Lebenswandel sich wenig unterscheidet von dem manches Kirchenmannes. Als Höllenbrut ist ihm auf dem Feld bei Stotternheim und in der Zelle der Wartburg die Eisenacher Ballettkompanie zur Seite gestellt. Zweifelsohne zwei der optisch eindrucksvollsten Szenen, erarbeitet von Gastchoreograf Ricardo Fernando.
Darf Tanz in einem Musical, das seinem Genre gerecht werden will, ohnehin nicht fehlen, so ist es der Einsatz von Videos, der „Luther!“ eine charakteristische eigene Handschrift verleiht. Mehrere variable Leinwände unterteilen die Bühne in unterschiedliche Ebenen. Sie können ebenso bespielt werden wie die beweglichen Kulissen von der Kanzel bis zur Druckpresse, die nach Bedarf heruntergelassen oder hereingerollt werden, was besonders imposant wirkt, wenn darauf der zuvor aufgenommene Meiniger Opernchor als erregte Volksmasse auftaucht. Fazit: Tolle Darsteller, Rocknummern, die garantiert lange im Ohr nachklingen, viel Sprach- und Spielwitz, intelligente visuelle Lösungen, starke Bilder. Sollte man gesehen haben.