Foto: Das "Cum-Ex-Papers"-Ensemble: Ruth Marie Kröger, Günter Schaupp und Jonas Anders © Anja Beutler
Text:Jens Fischer, am 25. April 2020
Ein guter Zeitpunkt, sich mit dem Theaterstück „Cum-Ex Papers“ des kleinen Off-Theaters Lichthof in Hamburg-Bahrenfeld aus dem Jahr 2018 zu beschäftigen. Zum einen als Erinnerung im medialen Overkill zum Thema Corona, dass all die vor dem Lockdown virulenten Probleme weiterhin existieren. Kriege, Ausbeutung von Menschen und Natur sowie kriminelle Bereicherung auf Kosten der Allgemeinheit pausieren nicht, die soziale Spaltung der Gesellschaft hat sogar noch an Dynamik gewonnen. Zum anderen verhängte Mitte März das Landgericht Bonn Bewährungsstrafen im bundesweit ersten Strafprozess gegen Abzocker sogenannter Cum-Ex-Geschäfte, dem größten Steuerraub aller Zeiten mit einem geschätzten Schaden von 32 Milliarden Euro allein in Deutschland. Gleichzeitig wurde erstmals höchstrichterlich festgestellt, dass die umstrittene Praxis einen Straftatbestand darstellt. Cum-Ex-Akteure hatten beteuert, lediglich listig eine Gesetzeslücke ausgenutzt zu haben. Das Bonner Urteil sei der Auftakt vieler weiterer Prozesse, verhießen die Richter. Erste Folge: Die Stadt Hamburg stellte kurz nach der Urteilsverkündung der sich piekfein inszenierenden Privatbank W. W. Warburg einen Zahlungsbescheid über 176 Millionen Euro aus. Es geht dabei um erstattete Kapitalertragsteuer aus Cum-Ex-Geschäften – inklusive Zinsen. Aktien mit („cum“) und ohne („ex“) Dividendenanspruch wurden in den Jahren 2001 bis 2011 zwischen Banken, Investoren, Fonds hin und her geschoben, dabei Kapitalertragssteuerbeträge nur einmal bezahlt, anschließend aber mehrmals Anträge auf ihre Erstattung gestellt und vom Fiskus genehmigt, da er nicht mehr nachvollziehen konnte, wem die Papiere wann gehörten.
Hintergründe, Auswüchse, Mechanismen dieses Betrugs verständlich zu machen, politisch einzuordnen und all das als lustvoll vitale Kooperation von Journalismus und dramatischer Kunst in einer Dokumentartheater-Performance zu präsentieren, ist das große Verdienst dieser 2019 mit dem „Faust“ ausgezeichneten Inszenierung von Helge Schmidt. Er hat mit dem Recherchenetzwerk Correctiv bei der Aufdeckung des organisierten Verbrechens im Maßanzug zusammengearbeitet. Ein Komplott von ruchlosen Bankern, Investoren und Anwälten, eine selbst ernannte Elite, die trunken von ihrer vermeintlichen Schlauheit meint, über den Dingen zu stehen. Ein reine Männergesellschaft übrigens.
In der Ausstattung von Lani Tran-Duc und Anika Marquardt lässt ein Lamellen-Jalousie-Halbrund das Spiel mit Transparenz und Intransparenz zu – und ermöglicht Videoprojektionen von TV-Interviews mit investigativen Journalisten, Tätern und Staatsvertretern, die nicht willig oder in der Lage waren, etwas gegen die Bandenkriminalität auf dem Aktienmarkt zu tun. Ausgangspunkt und Zentrum der Aufführung ist ein achtstündiges Interview mit einem Whistleblower. Anfangs wird er von einem Schauspieler gespielt als Landei, das seine Spießerträume vom Porschefahren, einer Villa auf Mallorca und Übernachtungen in Luxushotels über ein top absolviertes Jurastudium realisieren will. Es gewährt Aufnahme in eine weltweit Firmen und Regierungen beratende Anwälte-Loge: Tummelplatz von Turbokarrieren und Millionenprofiten. Nach und nach übernehmen alle drei Darsteller die Rolle des Insiders und verwandeln sie in eine Theaterfigur. Nicht um empathisches Ergründen geht es, wie der naive Junge als Testosteron-Junkie in der Parallelwelt versackte, sondern um die Auseinandersetzung mit seiner Selbstinszenierung. Um das Prinzip Raffgier. Witzig, wütend, lebendig kommt die Inszenierung daher. Immer nah an den Fakten, die mit theatralen Mitteln durchleuchtet und kommentiert werden. Jonas Anders, Ruth Marie Kröger und Günter Schaupp tanzen in lustiger Enthemmtheit im Geld symbolisierenden Glitzerflitterregen, schleichen wie eine Panzerknackerbande über die Bühne, übersetzen das Finanzgebaren in fabelhafte Kabarettszenen und spielen die Faszination der Insignien von Macht und Reichtum ironisch mit. Das Bühnengeschehen wirkt improvisiert, ist aber ein dramaturgisch klug collagiertes Hinterfragen, Konterkarieren, Überspitzen. Die Empörung wird dabei anschlussfähig fürs Publikum, die Steuerzahler, die schließlich die Opfer sind, wurden doch gezahlte Steuern vieler zum Privatvergnügen weniger entwendet. Sehr wichtig der Hinweis von der Bühne, dass in heutigen BWL- und VWL-Studiengängen eben dieses Denken gelehrt wird: Steuergesetze seien nur Herausforderungen, Strategien des Hintergehens zu realisieren.
Im Nachhinein geradezu vorbildlich wirkt das Stück, weil es zeigt, wie schnell Theater mit seinen Mitteln auf aktuelle Themen reagieren kann. Gerade Stadttheater nehmen sich ja häufig diese Möglichkeit durch jahrelang im Voraus zusammengestellte Spielpläne. Außerdem erfreulich: Die Produktion ist konventionell, aber handwerklich solide mit gutem Ton abgefilmt worden, ein paar Überbelichtungen stören nicht. Der Wechsel von der Totalen zu Halbnah- und Naheinstellungen gibt dem Video einen schönen Drive, die Atmosphäre einer Aufführung mit Publikum vermittelt sich. „Cum-Ex Papers“ ist zu streamen über die Videoplattform Spectyou.