Theremin, E-Gitarre und Syntheziser/Hammond-Orgel werden als teilweise elektronisch in den Raum geschickte Bühnenmusik gespielt, für die Berg schon eine Drehorgel vorgesehen hatte, die er freilich, wie Cerha, als (Holz-)Bläsersatz instrumentierte. Zu Beginn des dritten Akts sitzen die drei Musiker noch auf der linken Seite der Bühne, drehen sich aber während des Zwischenspiels nach rechts hinten. Dann fahren auch die Reste des zunehmend kollabierten Spiegelkabinetts nach oben, das zwei Akte lang das abstrakte Einheitsbühnenbild darstellt. Regisseur Marco Štorman bürstet darin das Geschehen gegen den Strich, verzichtet ganz auf Requisiten, erklärt Schigolch (Loren Lang) zum angeblichen drahtziehenden Zirkusdirektor, der auch den Prolog beginnt und erst dann die Begrüßung an den Tierbändiger übergibt. Birger Radde spielt und singt später auch als Athlet sehr suggestiv. Keiner der Männer Lulus kommt wirklich zu Tode, ein Sternenregen aus rotem Glitzer-Flitter muss reichen; selbst für Alwa (indisponiert, aber in der heiklen Partie gut durchhaltend: Chris Lysack), den ein Freier Lulus umbringt. Dass Lulu (leider zu einem aseptischen Dauerlächeln verdammt und auch singend seltsam weißleuchtend: Marysol Schalit) nicht von Dr. Schön (sehr prägnant: Claudio Otelli) zum Suizid genötigt wird, und sie ihn auch nicht mehr in Notwehr umbringt, sondern stattdessen fünfmal in die Luft schießt, stellt natürlich das ganze Stück auf den Kopf. Erst im dritten Akt wird die Funktion des Kleides von Lulu klar, das sie anderthalb Akte trägt: Ein mit allerhand Rüschen aufgehübschter Frisiermantel in verblichenem Rosa. Mit ihrer Entlassung aus dem Gefängnis wird es als ihr „Bild“ erkennbar, das nun ein junger Tänzer trägt, der den stummen Aujust (Sami Similä) darstellt, und sich damit als Gogo-Girl an der Stange müht. So weit, so etwas verkrampft der Versuch Štormans, Lulu weder zur Täterin noch zum Opfer und auch nicht zur Männer-Projektion werden zu lassen.
Zwei Akte lang überzeugt die Leistung der Bremer Philharmoniker unter Leitung von Hartmut Keil mit dieser heiklen Zwölfton-Oper, in der instrumentale Präzision der Expression nie im Wege stehen darf, mehr als die Regie. Doch der dritte Akt ist musikalisch wie szenisch der gelungenste. Denn Štorman gelingt eine kluge Verdichtung der Pariser Gesellschaftsszene, bei der alle – Männer wie Frauen – Klone Schöns sind, wie auch zuvor schon alle, die Lulu begehren – der junge Gymnasiast (ein schlanker, junger Mezzo: Ulrike Mayer) und die Geschwitz (intensiv: Nathalie Mittelbach) eingeschlossen – als seine gleichgekleideten Satelliten erscheinen. Den Besuch der Freier Lulus verdichtet der Regisseur auf den Aufritt Schöns hin, der sich langsam nach vorne arbeitet und das Kleid Lulus über dem nackten Oberkörper wie einen Schutz trägt, wenn er in Embryonal-Stellung auf dem Boden liegt. Mit dem „Nein!“, das sonst Lulus zwölftönigem Todesschrei und ihrer Ermordung vorausgeht, entreißt sie – in hautenges Silber gekleidet – hier ihr Kleid dem am Boden wimmernden Schön alias Jack the Ripper. So seltsam das auf dem Papier anmutet und dem Buchstaben der Partitur und vor allem dem Text zuwiderläuft, so gut funktioniert es auf der Bühne. Nach dem leidenschaftlichen Aufschrei der Gräfin Geschwitz – hier aus dem Hintergrund durch Nathalie Mittelbach mit großer Klangfülle hereinflutend – steht Lulu immer noch triumphierend lächelnd an der Rampe und ruft ganz am Ende mit dem Finger vor dem Mund leise „Psst!“
Heusingers Bearbeitung gibt dem dritten Akt eine suggestiv flirrende Klanglichkeit, die nicht zuletzt gliedern und das Klangbild plastisch auffächern hilft und dem vermeintlichen Abstieg Lulus als Prostituierte eine raffinierte Halbwelt-Atmospäre verleiht. Nach Aussage des Komponisten steht die Gitarre wie auf surrealen Bildern für den Frauenkörper, hier also (wie die „Bildharmonien“) für Lulu, und das Theremin „für die Salon-Atmosphäre“. Außerdem zeuge es davon, „dass wir uns in einem Panoptikum der Gefühle bewegen“. Andere Produktionen werden aber sicher zeigen, dass diese musikalische Bearbeitung und raffinierte Strichfassung, die bei Reduktion der Besetzung das Klangspektrum gleichzeitig erweitert, auch in anderer szenischer Deutung hervorragend funktionieren kann.