Volle Bühne in Stuttgart – „Die Verurteilung des Lukullus“ in der Regie des Kollektivs Hauen und Stechen

„Lukullus“ arg lukullisch

Paul Dessau/Bert Brecht: Das Urteil des Lukullus

Theater:Staatsoper Stuttgart, Premiere:01.11.2021Regie:Theaterkollektiv Hauen und StechenMusikalische Leitung:Bernhard Kontarsky

Der Abend beginnt mit zwanzig Minuten Verspätung – und einer Entschuldigung des Stuttgarter Opernintendanten Viktor Schoner: Mit einem solchen Zuschauerandrang an den Abendkassen habe sein Haus am ersten Abend der Post-Corona-Vollbesetzung schlicht nicht gerechnet. Dann geht es los mit Hauen und Stechen: So nennt sich das Berliner Theaterkollektiv, das sich jetzt der nur selten gespielten Oper „Die Verurteilung des Lukullus“ von Paul Dessau und Bertolt Brecht annahm. Die Wiederbelebung des 1951 in Ostberlin uraufgeführten pazifistischen Musiktheaters, das auf einem kurz zuvor veröffentlichten Hörspiel Brechts fußt, wird in der Staatsoper Stuttgart zu einer grellbunten Collage aus Bildern, Videos und Bühnenaktion.

 

Der Puschelpantinenfeldherr

Das entspricht dem Stück, denn dieses ist im Kern ebenfalls eine Revue. Schon der Trauerzug nach dem Tod des Feldherrn Lukullus, den die Regisseurinnen vorab laut lamentierend durch das Foyer des Opernhauses ziehen lassen, stimmt das Publikum ein auf den ironischen Unterton einer im Kern sehr ernsten Geschichte, die den Abgelebten vor ein Totengericht befördert und dort für seine Untaten zur Rechenschaft zieht.  Natürlich versucht sich Lukullus – hier ein spinnerter Römer in Puschelpantinen – so herauszureden, wie sich Täter und Mitläufer immer schon herausgeredet haben: Man habe nicht anders gekonnt, habe bloß seine Pflicht erfüllt, und das System sei halt so gewesen. Aber Zeugen berichten von den Kehrseiten seines Heldentums, den Verbrechen, den Toten. „Aus der Welt geht der Schwächere, und zurück bleibt die Lüge“, lässt Brecht den Richter sagen, und Sätze wie dieser belegen: Das Thema des Stücks ist immer noch bedrückend aktuell.

Staub angesetzt hat nur die Art der Präsentation. „Die Verurteilung des Lukullus“ hebt nach Art eines Lehrstücks permanent den Zeigefinger und durchbricht nach Art des epischen Theaters mithilfe zweier Sprecher ständig die Bühnenillusion. Immer wieder kippt das verinnerlichte Spiel um in einen Kommentar von außen, gleichzeitig wechseln Ernst und Parodie, und so fragt man sich als Zuschauer verwirrt, was hier nun eigentlich gesagt und gefordert wird. Haltung und Meinung verbergen sich.

 

Die überfüllte Bühne

Die Leute von Hauen und Stechen gestalten mit großer Fantasie. Aber sie füllen auf der Bühne fast jeden Raum. Wo es neben skurrilen Kostümen und wilden Aktionen noch nicht bunt genug zugeht, ergänzen Videos die Szene, die oft bei der Verfolgung von Darstellern mit einer Handkamera entstehen. So tappen Regie und Ausstattung in die gefährlichste Falle, in die man bei diesem Stück tappen kann. Bertolt Brecht wollte beim „Lukullus“ dezidiert alles spätbürgerlich Lukullische vermeiden. In Stuttgart indes feiert die Inszenierung auf lust- und durchaus auch wirkungsvolle Weise ein Fest der Dekoration. Und über dem visuellen Zuviel und über den gleichwertig nebeneinander gestellten Bildzitaten aus der Deutschen Demokratischen Republik, aus Russland, China und dem alten Rom gerät die Frage nach der Haltung des Stücks vollends aus dem Blick. Erst kommt das Fressen, dann die Moral – das ist auch ein Brecht-Zitat.  

Aus dem Fokus geraten die Details. Das Leise. Beides könnte man hören, wenn die Musik nicht so sehr vom visuellen Getöse überdeckt würde. Der Dirigent Bernhard Kontarsky koordiniert präzise die Massen, darunter den sehr genau einstudierten Staatsopern- und Kinderchor sowie das schlagzeug- und bläserlastig besetzte Staatsorchester. Und neben Gerhard Siegel, der mit schneidendem Tenor dem Lukullus geradezu Cartoon-Format verleiht, stehen weitere exzellente Sänger auf der Bühne. Eine von ihnen, Cheryl Studer, Primadonna von ehedem, liefert als alte Frau Tertullia eine laut bejubelte Charakterstudie ab.

 

Das trauernde Fischweib

Vor allem zwei Szenen sprechen für sich und für das, was möglich gewesen wäre. In der einen singt eine Königin davon, wie „50 fremde Männer“ sie „besiegten“ (man mag sich gar nicht ausmalen, was das genau bedeutet), und Alina Adamski singt die besiegte Frau mit einer wunderbaren Mischung aus Koloraturschärfe und emotionaler Zerbrechlichkeit. Die zweite Szene gestaltet Maria Theresa Ullrich hochempathisch: als Fischweib, das um seinen gefallenen Sohn trauert. Beiden Sängerinnen ist einer jener Instrumentalsolisten zugeordnet, die das Bühnengeschehen auf poetische Weise ergänzen, hier Andrea Berger an der Harfe, dort Ulrich Schlumberger am Akkordeon. In beiden Szenen hält die Inszenierung den Atem an, das Muskel- wird zum Kammerspiel, und plötzlich spürt man, was einem das lange vergessene Stück hätte sagen können. Zu spät.

(Nochmals am 6., 13., 15. und 20. 11.; Karten unter 0711 / 20 20 90)