Natürlich entzieht sich eine solche Aufführung der professionellen Kritik. Über das Erleben der Beteiligten, über die inner- und zwischenmenschlichen Komponenten kann man von außen nur mutmaßen, ihren Mut, vor hunderten Zuschauern überhaupt auf die Bühne zu gehen und zu tanzen, was ja immer auch eine Art Entblößung ist, kann man bewundern, um die Freude am Gelingen, wenn der Hafen erreicht ist, kann man sie beneiden. Gerade diese Fröhlichkeit teilen sie am Ende mit den Zuschauern, wenn sie in einer endlosen Serpentine zu einer munteren Musik über die Bühne tänzeln, jeder mit seinen Körpergliedern wedelnd, wie er will.
Kurz vorher hatte noch in einer der immer mal zwischengeschalteten Videoeinspielungen ein Mittänzer erklärt „ich liebe alle Menschen!“. Er sei vor 25 Jahren aus dem Senegal nach Deutschland gekommen und arbeite als Sicherheitsmann. Das ist seine Antwort auf die Frage nach Heimat, er wiederholt sie und lächelt breit: „Ich liebe alle!“ Die ganze „Odyssee_21“ hebt eigentlich auf das Liebenswerte ab. Das ist ein schöner Zug. Die Menschen, die auf den Schwarz-Weiß-Videos von De-Da Productions zu Wort kommen, schließt man gleich ins Herz, den polnisch-deutschen Jungen, der gern mal nach Australien reisen möchte, die Frau, die vor Jahrzehnten aus Rumänien kam, weil die deutsche Minderheit dort diskriminiert wurde, die in Wiesbaden lebende Schwäbin, für die Heimat in speziellen Wörtern liegt, die junge Somalierin, die gerne tanzt; „jeder sagt, was er denkt, das ist einfach Freiheit“, radebrecht gekonnt eine andere. Ihr erstes deutsches Wort sei „ach so“ gewesen. Sie strahlt.
Die Choreografie wiederum stellt selten Einzelne heraus. Mal einen jungen Mann mit Kappe, der breakdance-mäßig seinen Arm, Schulter, Kopf verschiebt und auf den Schultern rotiert. Mal ein Mädchen, das im Stehen mit den Armen zwirbelt wie ein seltsames Gewächs; kurz darauf wachsen ähnlich züngelnde Arme aus dem Häuflein Kinder heraus, das hinter ihr liegt. Oder die Profitänzerin Sabine Groenendijk, sie macht ein noch größeres, nervöser flackerndes Feuerchen mit dem ganzen Körper, bis ein sich langsam nähernder Herr sie beruhigend an die Schultern fasst; nun kann sie liegen. So tun es ihr andere dann nach, so wie eben häufiger eine einzelne Aktion von mehreren oder vielen übernommen und so vergrößert wird: Jemand zittert, wird berührt und hingelegt. Wahrscheinlich ist damit nicht Wegräumen, sondern eine Geste der Hilfsbereitschaft gemeint. Auch in anderen Formen: zwei Sitzende halten eine dritte, Stehende, die sich wie eine Galionsfigur nach vorn ins Wetter beugt. Jemand zieht einen anderen mit der Hand so schwungvoll heran, dass dieser einen guten Sprung machen kann. Eine Gruppe trägt jemanden über den Köpfen, lässt ihn schweben. Oder die Vertrauensübung: Jemand lässt sich steif nach hinten kippen, ein anderer fängt ihn, mit Hand am Nacken, sorgsam auf. In einigen Szenen wiederum sind eher traurige Vereinsamung oder Abschied zu erkennen: Wenn eine Reihe Senioren ungeduldig auf etwas zu warten scheint. Wenn aus einem ruhigen, fast umarmenden Paartanz, ein Tänzer heraustaucht und zwei leere Arme zurücklässt.
Doch drückt diese „Odyssee_21“ nie auf die Tränendrüse. Sie setzt, zu einem anonymen Musikmix, weder auf Spektakel noch auf theatralisches Darstellen von Flucht. Manchmal gehen einfach nur sehr sehr viele Menschen quer über die Bühne oder eine Menge rennt oder eine Gruppe schreitet mit tiefen langen, schweren Schritten, oder ein Pulk treibt in Zeitlupe rückwärts. Immer ist Bewegung, lässt sich da herauslesen. Macht was draus!
Das Stück ist noch einmal zu sehen, in Darmstadt, im Großen Haus des Staatstheaters, am 14. Juli um 19.30 Uhr. Die partizipative Arbeit mit Nachbarn und Neuankömmlingen möchte das Hessische Staatsballett fortsetzen.