Foto: "Schachnovelle" am Theater Kiel. Jörg Sabrowski (Dr. Leo Berger) © struck-foto
Text:Christian Strehk, am 27. Mai 2013
Kiel. Die Literaturoper lebt. Im Kieler Opernhaus hat der spanische Grandseigneur der Tonkunst, Cristóbal Halffter, nach der Deutschen Erstaufführung seines „Don Quijote“ und der Uraufführung von „Lazaro“ nun als Auftragswerk Stefan Zweigs berühmte „Schachnovelle“ als brennend emphatischen 100-Minuten-Einakter herausgebracht. Der kühne, aber insgesamt gelungene Versuch, aus der stimmungsdichten Erzählung ein bühnenwirksames Libretto zu formen, stammt von Wolfgang Haendeler. Der einstige Kieler, inzwischen am neuen Opernhaus in Linz tätige Chefdramaturg hat die Rückblenden der Vorlage gemieden und einen kontinuierlichen Handlungsstrang entworfen.
Die erste Szene über die Kindheit des später unnahbar hochmütigen Schachweltmeisters Czentovic (imposant: Tomohiro Takada) scheint in der pausenlosen, in der Mitte von einem aggressiven „in tempora belli“-Orchesterzwischenspiel geteilten Oper noch entbehrlich. Da wo sich in Alban-Berg-Manier die Stützen der Gesellschaft (wie der herrlich hysterische Tenor Fred Hoffmann als „Koller“) Profit durch das Wunderkind erhoffen, vergewissert sich die Literaturoper noch sehr konventionell ihrer literarischen Vorlage, ohne dass sich daraus zwingende Konsequenzen für das Folgende ergeben. Doch mit der Verhaftung der viel wichtigeren Figur des Rechtsanwalts Dr. Berger durch die seit 1938 auch in Wien aktive Staatspolizei zieht die Halffter-Haendeler-Transformation der Novelle in ihren Bann. Ein schräger, aber eindringlicher Kunstgriff gelingt mit der Besetzung des Gestapo-Offiziers durch einen Countertenor: Michael Hofmeister lässt ihn enervierend als Verschnitt zwischen Goebbels und Christoph Waltz’ Tarantino-Oberst Landa krähen.
Auf Drängen des Komponisten, der in Deutschland und seiner Heimat Spanien den Ungeist faschistischer Regime erlebt hat, hat Haendeler der Oper eine Art „lieto fine“ angestrickt, das in seiner utopischen Gestimmtheit über Zweigs offenes Ende weit hinausweist: Das große Nichts ist hier überwunden, das geistlos Böse scheint besiegt. Dr. Berger steht nach der finsteren Zeit des Nationalsozialismus wieder in seinem einstigen Zimmer-Kerker des zur gefürchteten Gestapo-Zentrale missbrauchten Hotel Metropol in Wien – und hält ein Buch in der Hand: eben die berühmte Schachnovelle, flammende Schrift des Widerstandes durch die Kraft menschlichen Denkens. Der Gutmensch Dr. Berger, den Jörg Sabrowski großartig mit viel Wotan-Sonorität, Wahnsinnspotential und Wortgewalt singt und lebendig macht, will nun „eine Welt aufbauen, wo Geist und Würde nicht mehr schutzlos sind“.
All das könnte kitschig entgleisen, wäre da nicht Halffters immer noch von jugendlich wilder Energie durchglühte, den Ersthörer nicht selten aggressiv überfordernde Musik. Unter der Leitung von Generalmusikdirektor Georg Fritzsch lassen sich die groß besetzten Kieler Philharmoniker bravourös darauf ein, ihre individuelle Stimme, die immer wieder in Chromatik und Glissandi wegzurutschen und im Zeitkontinuum verloren zu gehen droht, im großen Tonströmen zu bündeln. In dieses Brausen der klassischen Moderne integriert der mit allen Wassern der Tradition gewaschene Halffter auch mal Inzidenzmusik wie die Straußsche „Annen-Polka“, um Gäste auf dem Passagierdampfer zu unterhalten. Anders als Alexander Schulin in den vorangegangen Opern Don Quijote und Lazarus tritt Regisseur Daniel Karasek nicht an, Halffters Klangsturm eigene Bilderwelten und Interpretationsideen entgegen zu stemmen. Seine Inszenierung präsentiert die Handlung in Setzkasten-Tableaus, um sie möglichst (über)deutlich zu machen. So wird das Zuschlagen der Tür zur Freiheit sogar mit der Comic-Klanglupe über Lautsprecher vergrößert.
Das hat ästhetisch etwas von sauber gearbeiteten Infotainment-Dokumentardramen à la Vilsmaier. Hier wie dort wird man auf dem 30er-Jahre-Schick (Kostüme: Claudia Spielmann) keinen Fleck aus Blut und Tränen finden. Dazu trägt auch das hoch- und weiträumige Bühnenbild von Norbert Ziermann bei, das mit seinen bedrohlich leer gähnenden Bücherregalen und in verblendend leuchtendem Kreuzfahrt-Weiß bis auf zwei, drei störende Verwandlungsschnitte gut funktioniert. Trotzdem ist es spürbar schwer, im notwendigen Voran der Bühnenadaption die mehrmonatige Isolationshaft Bergers atmosphärisch zu fassen und das bei Zweig so quälend intensiv beschriebene Stehlen des ersehnten Buches angemessen zu erzählen. Auch die Komposition wirkt hier allzu atemlos knapp. Die stärkste Intensität entwickelt dennoch die anschließende Vierte Szene. Zum einsamen Klagen der Solo-Bratsche, zum suggestiven Hineinsteigern Sabrowskis in den schizophrenen Schach-Wahn und zum herbeihalluzinierten Stimmengebraus der Schachfiguren (Choreinstudierung: Barbara Kler) kann Karasek zudem auf die unwiderstehliche Wirkungsmacht der aufwändigen Videoprojektionen von Konrad Kästner zählen. Da gehen dann Bild und Ton suggestiv Hand in Hand. Das gelingt bei der zweiten „Schachvergiftung“ auf der Schiffspassage – mit hinzugedichteter Krankenschwester (Heike Wittlieb) und dem spielsüchtig fiebernden McConnor (stark: Tenor Michael Müller) – nicht gleichwertig. Wie aber Cristóbal Halffter schließlich die Musikfarbe ins Aufgeklärte wechselt, als Dr. Berger plötzlich hellsichtig sein Sendungsbewusstsein erlangt, verfehlt seine Wirkung nicht. Im Beisein von Kollegengrößen wie Peter Ruzicka oder Aribert Reimann wird der glücklich strahlende 83-Jährige dafür nachhaltig gefeiert.