Foto: Der öde Tag bricht an, und Isolde (Christiane Iven) reißt die Vorhänge runter. Szene aus der Stuttgarter "Tristan"-Inszenierung im Bühnenbild von Bert Neumann. © A.T. Schaefer
Text:Detlef Brandenburg, am 21. Juli 2014
Zu Anfang, beim Vorspiel von Wagners „Tristan und Isolde“, warf der Dirigent Sylvain Cambreling an der Oper Stuttgart die interessante Frage auf, ob auch strukturelle Exegese zum Orgasmus führen kann. Am Ende musste man ermattet feststellen, dass in der Liebe nichts unmöglich ist, denn ihr Wesen ist unergründlich. Diesen Beweis wollten möglicherweise auch Jossi Wieler und Sergio Morabito antreten. Aber ganz zufrieden waren die Zuschauer diesmal nicht mit den Rätseln, die ihnen da vom Intendanten-Chefdramaturgen-Team der Oper Stuttgart aufgegeben wurden. Bislang hatten Wieler und Morabito einen Erfolg nach dem anderen an ihrem Haus gelandet, diesmal aber mussten sie zusammen mit dem Bühnenbildner Bert Neumann und der Kostümbildnerin Nina von Mechow auch kräftige Buhs über sich ergehen lassen.
Nicht so Sylvain Cambreling, und dafür gibt es vor allem zwei Gründe. Der eine liegt in der Musik selbst. Denn es ist immer wieder, und so auch hier, spannend zu hören, wie atemberaubend modern und komplex die Struktur der narkotisierenden „Tristan“-Musik ist, wenn der Dirigent das Narkotikum ausnahmsweise mal vom Rezept streicht. „Zukunftsmusik“ spotteten einst Wagners Gegner – und wussten gar nicht, wie Recht sie hatten. Anfangs zwar hatte man wirklich Sorge, ob Cambreling mit dem in Artikulation und Koordination leider keineswegs immer lupenrein spielenden Staatsorchester überhaupt von der Stelle kommen würde an diesem Abend. Aber sehr schnell war man gefangen genommen von den plastisch ausformulierten Strukturgebilden und Prozessen, die er da entfaltete.
Und dann ist der GMD der Oper Stuttgart zwar Strukturalist, aber irgendwo eben doch auch ein Musikant, der den vielen lyrischen (und dann doch sehr schön gespielten) Soli und instrumentalen Miniatur-Intermezzi der „Tristan“-Partitur Raum zum Atmen und Sich-entfalten gibt. Das macht auch den Sängern ihr Bühnenleben etwas leichter, wovon vor allem Erin Caves bei seinem Tristan-Debüt profitiert. Anfangs klang sein dunkel grundierter, dabei metallisch strahlender Tenor etwas dünn, nicht gefestigt im Sitz, ja angestrengt. Und im 2. Aufzug zu Beginn der Liebesnacht fehlte ihm im Lodern der äußersten Emphase einiges an Kraft und Furor. Dass er dann aber die berüchtigten Fieberphantasien des todkranken Tristan am 3. Aufzug nahezu ohne Drücker und naturalistisches Gejapse durchstand, war eine hochbeeindruckende Leistung, die Cambreling ihm dadurch ermöglichte, dass er nie ins Hetzen geriet und den Sänger nie zum Hecheln nötigte. Und es bestätigte sich wieder einmal, dass es keineswegs das hohe Tempo sein muss, das der Musik die Spannung gibt. Auch Christiane Iven war eine sowohl hochbewusste als auch einfühlsame Gestalterin ihrer Partie, die vor allem deren lyrische und delikat parlierende Episoden feinsinnig formulierte. Aber für die großen Höhepunkte fehlt ihr die klar timbrierte Durchschlagskraft und damit die Reserve, die man braucht, um die Partie nicht nur zu schaffen, sondern auch zu beherrschen. In solchen Momenten gab Iven die Artikulation fast völlig preis, auch die Intonation wackelte, und vor allem das an sich schöne helle Timbre entglitt ihr hier ins überforciert Schrille.
Die eindrucksvollste Leistung gelang an diesem Abend wohl Attila Jun, der den betrogenen König Marke als großen Schmerzensmann gestaltete und in seinen wuchtigen, dunkelsatten und ausdruckvoll herben Bass alle Verzweiflung darüber packte, dass eine Liebespassion wie die von Tristan und Isolde nicht einmal der Erlösung durch königliche Güte zugänglich ist. Und auch Shigeo Ishino profilierte seinen Kurwenal mit dunkler Fülle und kantiger Kraft als kernigen, skrupellos treuen Gefolgsmann. Eine ganz andere „Getreue“ zeigte uns Katarina Karnéus als Brangäne: eine lyrisch helle, fast mädchenhaft verzweifelte Freundin der Isolde, eher ängstlich als mahnend – da kamen Stimmtyp und Figurenprofil gut zur Deckung. Bemerkenswert schlank und klar sang Daniel Kluge den jungen Seemann, auch der Hirt von Torsten Hofmann war klangschön.
Jossi Wielers Inszenierung beginnt bereits mit einer Irritation: Ein Prospekt zeigt ein mächtiges Rund mit durchfensterten Wänden und einer Art Leuchtturm inmitten, eine Architektur, die man weder mit „Tristan und Isolde“ noch auch mit einem Bauwerk in Verbindung bringt, das man irgendwo schon mal gesehen hätte: Ein Wasserwerk? Ein Gasometer? So orakelte es in meiner Sitznachbarschaft, aber das Programmheft gibt verlässlich Auskunft: Vorlage ist das „Panopticon“, das der englische Philosoph Benjamin Bentham zu Beginn des 19. Jahrhunderts entworfen hat, und das Michel Foucault im 20. Jahrhundert in seinem Buch „Überwachen und strafen“ als Paradigma liberaler „Disziplinar-Gesellschaften“ beschreibt: ein Bauwerk, das der zentralen Macht die totale Überwachung gestattet, so dass jeder sich jederzeit kontrolliert fühlen muss. Und bereitwillig assoziiert man drauflos: Klar, Markes Reich ist ja auch so ein Disziplinarstaat, mit Melot als Agenten, der die Liebe zwischen Tristan und Isolde als verbotene brandmarkt. Doch wenn dieser Prospekt dann langsam transparent wird, sehen wir nicht etwa die NSA-Zentrale, sondern ein „Seestück“, hingesetzt wie auf einer Puppentheater-Bühne. Vor wogenden Wellen wiegt sich ein Kahn, die Braut nebst Dienerin ist an Deck untergebracht, zwei große Pakete mit Habseligkeiten und eine am Mast vertäute Standuhr bieten ihr eine provisorische Zuflucht.
Schiff ahoi also! Aber man fragt sich schon sehr bald, ob man all das, was man da sieht. so genau auch wirklich wissen muss. Für die atavistische Naturverbundenheit der irischen Maiden steht das orientalisch angehauchte Outfit, die Prinzessinnen-Würde Isoldes wird durch einen silbernen Kopfschmuck signalisiert, mit dem sie aber – mit Verlaub – selten dämlich aussieht, was dem Regieteam kaum entgangen sein dürfte und also Absicht ist. Und als die verzweifelte Prinzessin das „Wettergetös“ heraufbeschwört, reicht es zwar nicht, das Schiff zu zerschlagen, aber es schaukelt ganz schön, und da muss die schöne Isolde erst mal die Fische füttern. Ja, eine Seefahrt, die ist lustig, eine Seefahrt, die ist schön, denn da kann man feine Leute an der Reling kotzen sehn. Der zweite Akt spielt anfangs tatsächlich im Panoptikum, zunächst mit Isolde am Spinnrad, man muss die Zeit ja irgendwie totschlagen, solange die „Tagesgespenster“ der Liebesnacht entgegenstehen. Wenn die dann wirklich hereinbricht, geben silberglitzernde Stoff-Hänger, überdimensionalem Lametta gleich, der von einem liebesroten Rundprospekt umfangenen Bühne den Talmiglanz einer billigen Revue. Und wenn der Tag hereinbricht, reißt Isolde das rote Tuch, triumphierend in ihrem Liebesglück, herunter – und man blickt angestrengt blinzelnd auf Paneele aus grellen Neonleuchten, so dass man die Figuren im grellen Licht kaum erkennt und begreift, dass der Tag den liebend Umnachteten wirklich sehr gespenstisch vorkommen kann.
Und das ist vielleicht das eigentlich Irrtierende an all den Irritationen – und damit auch der Grund, warum man nicht irgendwann abschaltet, nach dem Motto: Was geht mich dieser Quatsch an?! Wann immer man genau hinschaut, und was immer man genauer weiterdenkt: Man stellt fest, dass Wieler und Morabito die Spuren aufnehmen, die Text und Partitur legen. Sie ziehen sie nur ein bisschen weiter, konkreter, direkter aus, bis heran an unsere (und des Theaters) prosaische Gegenwart. Auf einer bestimmten Ebene bietet der 1. Aufzug ja wirklich so etwas wie die maritime Boulevard-Komödie eines verhinderten Liebespaares, und Wagner übernimmt (und ergänzt) aus der Stoffvorlage viel mehr, als er für seine erotische Schopenhaueriade bräuchte. Und wenn Wieler und Morabito das Barmen und Sehnen der Liebesnacht mit viel mehr Bühnenrealismus als nötig unterlegen – machen sie damit nicht nur um so klarer, dass Realismus in dieser Liebesnacht nichts zu suchen hat?
Durch all diese Maßnahmen theatraler Wortwörtlichkeit wird jedenfalls klar, wie sehr wir uns daran gewöhnt haben, Wagners „Tristan“ harmonisierend wahrzunehmen, als großes Manifest einer inkommensurablen Liebe, sei es nun philosophischer, sozialkritischer, mythischer oder esoterischer Art. Wieler und Morabito dagegen beharren auf dem Hybriden dieses Manifests, auf seinen Widersprüchen: zwischen sagenhafter Vorgeschichte und philosophischer Vision, metaphysischem Anspruch und gelebter Realität, intellektuellem Wurf und banaler Theaterpragmatik, Gesellschaftskritik und Jenseitsflucht… Aber, und das ist die entscheidende Leerstelle: Dieser Ansatz wird zur Legitimation, auf Wagners zentrale Fragen keine eigenen Antworten mehr zu geben – so sehr, dass man stellenweise nicht weiß, wo hier die Interpretation aufhört und bloße Parodie anfängt. Tristans finale chinesische Schattenboxer-Übung etwa, mit der er in den Liebestod hinübertänzelt: Soll damit hohle Esoterik auf die Schippe oder das Liebesmysterium ernst genommen werden? Man erkennt es nicht, weil Wieler und Morabito zwar viel im wahrsten Wortsinn Fragwürdiges, aber keine Haltung zum inszenierten Werk finden. Und das ist für eine Inszenierung ziemlich unbefriedigend.