Foto: Raphael Rubino, Agnes Lampkin © Sandra Then
Text:Martina Jacobi, am 14. September 2024
Mit „Liebes Arschloch“ nach Virginie Despentes‘ Roman inszeniert Ran Chai Bar-zvi am Theater Münster eine sprachlich starke Vorlage über MeToo auf einer sehr menschlichen Ebene. Die zwei Schauspieler:innen, Agnes Lampkin und Raphael Rubino, sorgen auf der Bühne für nahbare und unangenehme Nähe.
„Baby, you understand me now?“ tönt Nina Simones Stimme durch den Zuschauerraum. Scheinwerfer leuchten auf eine als Wohnung eingerichtete Bühne, der typische Corona-Lebensraum. Alles, von der Badewanne über die Couch bis zum Bett ist weiß, alle Lampen, der Fusselteppich, der Wasserkocher. Auch die Kleider der Darsteller:innen: Agnes Lampkin als Schauspielerin Rebecca Latté und Raphael Rubino als Schriftsteller Oscar Jayack.
Rebecca geht erstmal aufs Klo, zieht die Spülung, aus der echtes Wasser sprudelt. Oscar auf der anderen Seite der Bühne fläzt auf dem Bett, popelt, kratzt sich im Schritt. Lichteffekte und Sprechpausen verorten beide jeweils in ihren eigenen vier Wänden. Er ist MeToo-Anfeindungen seiner ehemaligen Assistentin Zoé ausgesetzt, die einen ganzen Blog darüber schreibt. Und nun hat er in der Stadt zufällig seinen alten Schwarm Rebecca Latté gesehen und beleidigt sie auf Instagram als „alt, verlebt, auseinandergegangen“. Mit „Liebes Arschloch“ beginnt deren Antwort auf den Post. Daraus entspinnt sich ein Dialog, der die Grundlage von Virginie Despentes‘ gleichnamigem Roman ist.
Despentes wurde in Frankreich durch ihr Buchdebüt „Baise-moi“ (Fick mich) bekannt, in Deutschland durch dessen Verfilmung. Auch in ihren anderen Büchern geht es um Sex, Gewalt, Mord und Drogen. Im Zuge ihrer eigenen Vergewaltigung ist Despentes wütend auf eine Gesellschaft, „die mich erzogen hat, ohne mir je beizubringen einen Mann zu verletzen, der mir mit Gewalt die Beine spreizt, während die gleiche Gesellschaft mir eingetrichtert hat, dass das ein Verbrechen sei, von dem ich mich nicht mehr erholen dürfe“, zitiert das Programmheft.
Zu gleichen Teilen Opfer und Täter
Regisseur und Bühnenbildner Ran Chai Bar-zvi legt seinen Fokus bei Despentes‘ Vorlage, die sprachlich schon für viel inhaltliche Spannung sorgt, auf die zwischenmenschliche Beziehung von Rebecca und Oscar. Ihre Figur steckt in weiblichen Körperbildern fest, sie passt nicht mehr ins Kleine Schwarze, passt nicht mehr in die Rolle gesellschaftlicher Erwartungen an die (junge) Frau als ewige Verführerin. Oscar ist ganz im Bukowski-Style inszeniert, der versifft, versuffte Bademantel-Dude-Schriftsteller.
Aus ihrem gegenseitigem Zuhören entwickelt sich sowas wie eine Freundschaft, zumindest Nähe. Die gegenseitige Begegnung auf der Bühne ist Dreh- und Angelpunkt, das Unwohlsein der ersten Wahrnehmung in Fleisch und Blut dehnt Bar-zvi minutenlang ohne Worte aus. Das ist witzig, bringt Identifikation mit den Figuren im Publikum. Oscars überschwänglicher Stolz auf sich selbst dafür, dass er für seine Tochter mit Drogen aufhören will, ist wiederum Anlass, sich von ihm distanzieren zu wollen. Sein durchdringender Blick in Rebeccas Augen bei den Worten „Ich will doch nur gemocht werden“ bringt unangenehme Rückenschauer.
Mit den Gegensätzen „Opfer/Täter“ war die Inszenierung im Voraus übertitelt. Vor der weißen Bühne sind wir erstmal alle zu gleichen Teilen Opfer und Täter, Richter:innen und Verurteilte, zumindest in Bar-zvis Erzählweise menschlich. Der Abend entlässt innerlich zwiegespalten und nachdenklich. Ohne Schablone für den „guten“ oder „schlechten“ Menschen. Never meet your inner hero, oder eben doch, und dann vielleicht sich anfreunden.