Foto: Auf der "niedlichen Rialtobrücke". Ensembleszene mit Adam Sanchez (Casanova) © Tom Schulze
Text:Roland H. Dippel, am 4. Juni 2018
Unbekanntes Stück: Erste prominente Inszenierung von Lortzings frühem „Casanova“ nach längerer Zeit
Bei Albert Lortzing steht vieles nur zwischen den Zeilen. Auch deshalb hat der Komponist, dessen Image seit 150 Jahren zwischen den Polen „liebenswerter Biedermeier“ und „stiller Revolutionär“ pendelt, außer regelmäßigen Produktionen seines „Wildschütz“, in den letzten Jahrzehnten stark an Repertoirepräsenz verloren. Nur an der Musikalischen Komödie in der Stadt, wo Lortzing seine künstlerisch und menschlich besten Jahre erlebte, hält man die Lortzing-Fahne noch so hoch wie früher überall und zeigt Jagdlust im derzeit vernachlässigten Revier der Dialogoper.
Vom 1841 am Leipziger Stadttheater uraufgeführtem „Casanova“ gibt es, wie im Falle von „Die beiden Schützen“ (zuletzt beim Verein Erlesene Oper in Rosenheim 2017) oder „Hans Sachs“, nicht einmal eine alte Rundfunkaufnahme auf CD. Den Klavierauszug aus dem Jahre 1912 fand Chefdirigent Stefan Klingele bei Ebay und verfertigte mit einem stark geforderten Team nach Stimmsätzen aus der Sächsischen Landesbibliothek Dresden und der Bayerischen Staatsbibliothek München das Aufführungsmaterial. Die in ihren Epochen und politischen Systemen verhafteten Bearbeitungen von Mark Lothar als „Casanova in Murano“ für die Berliner Staatsoper 1944 und für die ehemalige DDR von Hans R. Scheibe hätten heute keine Chance.
Vor allem muss man an der sorgfältigen Neuproduktion der Musikalischen Komödie würdigen, dass sie sich dem heute extrem schwierigen Genre einer deutschen Opéra-comique, die Genrebezeichnung „Spieloper“ führt tatsächlich in die Irre, mit Respekt und Genauigkeit widmet. Das gesamte Ensemble spricht die umfangreichen Dialoge ausgezeichnet, zeigt sich in der durch umfangreiche Verkleidungs- und Verwechslungsmanöver etwas zerfasernden Handlung von exzellenter Textverständlichkeit und agiert so genresicher, dass es keinerlei Notlösungen mit Operetten-Bodenhaftung nötig hätte. Der in allen szenischen Unterhaltungsmetiers erfahrene Chefregisseur Cusch Jung legt eine Regie hin, die man im besten Sinne nicht merkt. Diese formt er aus den Charakteren seiner Sängerdarsteller, lässt sie aber von diesen nicht verformen. So bewahrt Jung dem Geschehen auch dann noch Munterkeit, wenn die Handlung mit der Befreiung der schönen Rosaura von einer unliebsamen Vermählung in den typisch venezianischen Masken-Komplikationen verläppert.
Beate Zoff muss das Geschehen um den legendären Womanizer Casanova an diesem Schauplatz verorten, obwohl Lortzing in seiner Partitur keinerlei musikalische couleur locale gestaltet. Der erste Akt spielt auf und neben einer niedlichen Rialto-Brücke, der zweite in einem sandfarbenen Kerker der Toscana-Fraktion mit spielerisch herauslösbaren schwedischen Gardinen und im dritten weitet sich das Geschehen zur multifunktionalen Ballsirenen-Erlebniswelt. Das funktioniert, weil der Chor zu kleinen Gesten angehalten wird, die dem Geschehen eine unaufdringlich ironisierende Farbe geben. Mathias Drechsler zielt mit dem Chor der Musikalischen Komödie lieber auf musikalische Pointierung als spielerisches Rabaukentum.
Auf der Komikerseite hat Milko Milev Expertenniveau. Sein Kerkermeister Rocco, dessen Part sich durchgängig auf der Ebene eines dezent alkoholisierten Republikanismus bewegt, zeigt, dass sich ein schwereloser Elf auch im Körper eines gestandenen Mannbilds verstecken kann. Kerkermeister Rocco? Tatsächlich doppelt Lortzing in seiner Bearbeitung eines französischen Vaudevilles die „Fidelio“-Konstellation von Kerkermeister, dessen Tochter und deren angestelltem Galan. Beethovens Oper war damals so verbreitet, dass diese Analogie 1841 verstanden wurde.
In der Besetzung zeigt sich die sorgfältige Planung des Hauses. Soubretten sind zum Glück auf dem Rückmarsch. Leipzigs Operettendiva Lilli Wünscher zelebriert genussvoll Rosauras lyrische Bögen und Magdalena Hinterdobler bewegt sich als Kerkermeister-Tochter Bettina auf gleicher Höhe. Michael Raschle (Festungskommandeur Busoni), Hinrich Horn (der in der Uraufführung von Lortzing selbst gespielte Gambetto) und Andreas Rainer (Schließer Peppe) liefern in diesem Bilderbuch-Venedig prägnante Charakterfarben statt grober Lacher.
Aber in was für einem Spiel! Casanova entkommt seiner Kerkerhaft auf Fort St. André und kann Rosaura mit ein paar geschickten Schachzügen vor der Heirat mit dem intriganten Gambetto bewahren, bevor er weiterzieht. Lortzings Casanova will eigentlich nur das Eine, nämlich Freiheit. Er ist ein Frauenversteher, aber kein Frauenheld. Nur einmal, bei seinen künstlerischen Beschäftigungen mit Pinsel und Gitarre in der Kerkerhaft, kommt es zum körpernahen Flirt zwischen ihm und Bettina. Aber das ist schnell vorbei. Da zeigt sich der Graf Eberbach in Lortzings „Wildschütz“ weitaus umtriebiger und Marschners in Leipzig damals sehr populärer „Vampyr“ als viel übergriffiger. Was tun also mit diesem Protagonisten, der den Zuschauern von 1841 und heute genau das verweigert, worauf man die allergrößte Neugier verspürt?
Für einen solchen Casanova hat man in Leipzig genau den richtigen Mann: In Rot und Schwarz ist er ein echter Kavalier, der sich lieber mit einer energischen Geste den Staub von den Manschetten wischt als im Straßenstaub duelliert. Rosaura und sogar Bettina fliegen ihm zu, weil sie sich von ihm geachtet fühlen. Denn funktionalisiert und in verschiedene Identitäten gepresst wird Rosaura nicht von Casanova, sondern von ihrem profitbewussten Onkel. Adam Sanchez ist groß von Statur und berückend in der Tenor-Physiognomie. Dabei wird seine ideale Verkörperung Casanovas zur Stilisierung. Im Grunde ist Sanchez wie ein erwachsener Rosenkavalier, der die Flegeljahre des Wüstlings und Schürzenjägers übersprungen hat. Seine Eleganz schafft Distanz durch Perfektion. Dazu weiß er darum, dass der Zauber verfliegen könnte, wenn der angedeutete zum echten Handkuss wird, und zeigt das mit dominierender Bühnenausstrahlung.
Stefan Klingele hat dieses Porträt erst ermöglicht, indem er in Berücksichtigung des enormen Rollenumfangs seinem Casanova eine Rossini-nahe Auftrittsarie gnädig erlässt und auch der Ouvertüre etwas von ihrer lastenden Dauer nimmt. Selbst bei einer Produktion, die das Werk und Lortzings Ästhetik ernst nehmen, zeigen sich Gefährdungen. Man merkt, dass Lortzing in seinem „Casanova“ auf der Suche ist, mit Formen und Satztechniken experimentiert. Das Orchester der Musikalischen Komödie liefert dazu einen kompakten, dabei seidigen und geschmeidigen Ton, der die Tragfähigkeit des Abends garantiert, selbst wenn das Interesse an den Figuren leicht ermüdet. Das liegt nicht an dem Machern und Mitwirkenden dieser fein ausbalancierten Produktion, sondern an Lortzings „Casanova“ selbst: Denn der bleibt hinter den Riesenerwartungen an den Mythos doch etwas zurück.