Foto: Szene mit Aleksey Zagorulko, Cara Hopkins und Davit Bassénz © Nik Schölzel
Text:Vesna Mlakar, am 30. April 2018
Anna Vitas letzte Produktion als Ballettdirektorin in Würzburg: „Cinderella“
Au Backe, da könnten manche ästhetischen Alarmglocken schrillen. Ein Märchenballett zum Abschluss einer Ära?! Doch Anna Vita, scheidende Chefin der Tanzsparte am Würzburger Mainfranken Theater, zeigt sich nach wie vor als unbeirrbar. Mit Bartóks Operneinakter „Herzog Blaubarts Burg“ und Strawinskys urgewaltigem „Le Sacre du Printemps“ startete sie vor einigen Monaten in ihre 14. und letzte Spielzeit. Und auch in ihrer pfiffigen „Cinderella“-Neuproduktion lässt sich keine Spur von tänzerischem Kitsch oder melancholischer Sentimentalität finden. Alles, inklusive der Bühnenausstattung von Anika Wieners, wurde aufs Wesentliche reduziert.
Gelernt hat Vita ihr Handwerk – insbesondere das Erzählen von Geschichten mittels Tanz – an der John-Cranko-Schule in Stuttgart sowie anschließend als Tänzerin und später Probenassistentin unter Youri Vámos am Theater Dortmund, an der Oper Bonn, am Theater Basel und schließlich an der Deutschen Oper am Rhein. Nach Erfahrungen im pädagogischen Bereich übernahm sie ab 1997 choreographische Aufträge für Opern- und Operettenprojekte. Darüber hinaus konnte sie im Rahmen der „Jungen Choreographen“ erste Eigenkreationen für ihre Düsseldorfer Kompaniekollegen entwickeln. 2004 holte man sie dann in die unterfränkische Metropole am Main.
Mit einem Augenzwinkern auf die Smartphone-Generation präsentierte die aus Neuss stammende Choreographin als persönliches Finale Sergej Prokofjews Tanzklassiker „Cinderella“ – musikalisch ähnlich schlagkräftig wie dessen „Romeo und Julia“-Partitur. Dies machte den Premierenabend zu einer anspruchsvollen Herausforderung für das Philharmonische Orchester Würzburg, das seine Aufgabe unter der Leitung der Ersten Kapellmeisterin Marie Jacquot bestens meisterte.
Kaum zu glauben, dass Prokofjew die empfindsam-klangschönen, rhythmisch-pointierten Melodiebögen und musikalisch-bildhaft charakterisierenden Gemütszustände der Protagonisten, die wir aus Charles Perraults Märchenvorlage kennen, im Kriegswinter 1940 niederschrieb. Die Uraufführung erfolgte allerdings erst 1945 in Moskau. Seither bereichert das Werk den Repertoirefundus klassischer wie moderner Ensembles weltweit in unzähligen Neuinterpretationen. Zuletzt stellten Anfang März Peter Breuer seine inhaltlich detailreiche, zeitlos-klassische Version im Salzburger Haus für Mozart und Alfonso Palencia Mitte April eine ausstattungsprächtige Fassung voll magisch-imposanter Momente in Hagen vor.
Ganz anders und eigen ging Anna Vita nun an das Stück heran. Die einfühlsame musikalische Begleitung musste ihre nur 12 Tänzerinnen und Tänzer emotional tragen durch viele längere, unterschiedlich motivierte Soli und hübsch ausgedachte Pas de deux (Cinderella/Prinz), diverse komisch-groteske Trios der Stiefmutter plus Stiefschwestern bzw. bevorzugt sehr dynamisch angelegte Gruppenszenen. Anstelle eines szenischen Vorspiels oder Rückblenden säumten zig aus der Bevölkerung Würzburgs gespendete Schuhpaare die Rampe. Frei nach dem Motto: Schuhe machen Leute. Dementsprechend symbolträchtig ist, welche Fußbekleidung Vitas Interpreten tragen.
Klar, dass sich die austrainierten Mannsbilder David Bassénz und Aleksey Zagorulko die bunten High-Heels schnappen. In ihren pinken Tutu-Outfits mit gelben Stümpfen (Kostüme: Veronika Silva-Klug) gehen sie ganz in den Travestierollen des fiesen Schwesternduos auf. Das Markenzeichen ihrer Mutter dagegen ist glitzriges Grün – und ein Gehstock. Dieser dient Kaori Morito – hingebungsvoll diabolisch-hinterhältig-aufgeblasen – über seine stützenden Eigenschaften hinaus eindrucksvoll als Instrument zur Unterdrückung und Leistungseinforderung.
Die Story, in der weder Vater noch Besen, Feen oder heiratsversessene königliche Eltern vorkommen, beginnt in medias res. Der Vorhang hebt sich und aus einem staubschwarzen Kamin (Synonym für das unterjochte Lebensambiente Cinderellas) rollt eine graue Masse Körper. Es ist Schmutz, auf dem Cara Hopkins regelrecht wie von Taubenflügeln in die Luft gehoben durch den Raum segelt. Die meist an kleinere Tänzerinnen vergebene Titelpartie ist der drahtigen Australierin auf den Leib geschnitten: Sie strahlt von Innen heraus. In ihrer blauen Arbeitslatzhose untypisch selbstbewusst, die blonden Haare frech zum Zopf gefasst, das Bewegungsvokabular geschmeidig-traumversunken.
Gegenpol der Inszenierung ist ein royaler Single. Leonam Santos gibt ihn von Einsamkeit gelangweilt auf einem Schalensessel vor stilschicker Ziegelwand mit Kamin. Beide Welten sind über eine Drehscheibe quasi von Anfang an miteinander verbunden. Die Frage bleibt bloß, wie man die richtige Partnerin – anders ausgedrückt: die Liebe seines Lebens – findet. Ihre Existenz und dass es sich lohnt, sie zu suchen, stellt Vita in ihrer Erzählung tänzerisch deutlich heraus, indem sie Hopkins und Santos noch vor ihrer ersten realen Begegnung Rücken an Rücken zueinandergesellt.
Weil der Prinz sich für keine der vier Ladies entscheiden kann, die ihn – herbeigedacht ins schnieke Loft – bräutlich umschwärmen, rauscht in der folgenden Szene auf roten Spitzenschuhen flink eine taffe Heiratsvermittlerin (Caroline Vandenberg) herbei. Mit Laptop und Smartphone ausgestattet, lanciert sie schwungvoll und blitzschnell über soziale Netzwerke die Message: „Prinz sucht Frau – Einlass zum Casting nur mit Einladung“. Dafür gibt es völlig zu Recht reichlich Lacher. Kein Zweifel, die Geschichte spielt im Hier und Jetzt.
Ihr zeitloses Potenzial offenbart sich in nebensächlichen Momenten der Handlung. Wenn Cinderella die alten Pantoffel ihres Vaters an sich drückt. Wenn sie ihren einzigen Erinnerungsschatz einer Bettlerin schenkt und wenig später mit wunderbaren Steppschuhen überrascht wird. Ermutigt durch das fröhliche Klickern und Klackern traut Cinderella sich im Swingschritt einer Ginger Rogers zum Ball. Ihre Stärken sind Authentizität, Barmherzigkeit, Frohsinn trotz misslicher Lage und das Sich-Nicht-Entmutigen-Lassen – selbst wenn das Herbeizaubern ihres Kleids ein gutes Aktdrittel dauert.
Vita choreografiert diese Passage sehr modern, angereichert mit einem Farbspiel aus grauen, weißen und roten Tuchbändern, die bisweilen die gesamte Bühnenbreite einnehmen. Dafür schickt sie neben ihrem spielfreudigen Hauptpaar drei Männer in weißen Tüllröcken und drei Frauen in kurzen roten Kleidchen aufs Plateau. Ein magisches Sextett sozusagen. Am Ende, so scheint es, hält Cinderella das wiederhergestellte, zuvor von den Stiefschwestern im Zank zerrissene weiße Gewand in der Hand.
Nach der Pause gelingt ein weiterer Coup: Um die Damenquote beim Ball zahlenmäßig aufzustocken, bekommen die Tänzer rollende Verstärkung. Das wunderbare dieser Szene ist, dass Leonam Santos für Augenblicke im Walzerschritt schwarze Roben über kopflosen Styroporkörpern zum Leben erweckt. Ein Kunstgriff, den Anna Vita voll beherrscht: Mangel zu einer Tugend und aus wenig viel zu machen.
Im Stroboskoplicht reißt das komponierte Ticken der Uhr um Mitternacht die Ballgesellschaft auseinander. Angst vor Entzauberung hat Cinderella keine. Sie eilt heim, verfolgt von ihren familiären Dämonen. Entschlossen, diesen endlich zu entfliehen, reckt sie dem Prinz beherzt ihren Fuß aus dem Wäschewagen entgegen. Während draußen vor der Skyline über aufleuchtende I-Phones die Jagd in Liebesdingen weitergeht (finaler Gag: eine Stiefschwester krallt sich einfach den nächstbesten Mann), kulminiert das Happy End in einem schlichten Duett. Romantisch. Ohne jegliche Langeweile. Standing Ovations beim Publikum.
Am Ende der Saison werden alle 12 Ensemblemitglieder das Mainfranken Theater verlassen. Vitas Nachfolgerin Dominique Dumais (mit Kevin O’Day an ihrer Seite) will ein neues, wohl eher zeitgenössisch-performatives denn auf Handlungsballette fokussiertes Tanzkapitel aufschlagen. An der Bandbreite eindrücklich auf- und verständlich ausgearbeiteter Themen von Ballettklassikern bis zu Literaturadaptionen wird man sich jedoch messen lassen müssen. Der Qualitätsstandard nach der Vita-Ära liegt hoch.