Foto: Die 'überschriebenen' drei Schwestern mit Geist in "Au Monde" in Aachen. auf dem Bett v.l.: Suzanne Jerosme (jüngste Tochter), Sanja Radisic (älteste Tochter), Camille Schnoor (zweite Tochter) © Carl Brunn
Text:Andreas Falentin, am 7. Dezember 2015
Nur einer hat einen Namen. Ori, der jüngere Sohn, hat einige Zeit woanders gelebt, weit entfernt von der Familie. Die, die das nie geschafft haben, sind nur nach ihrer Funktion innerhalb der Familie benannt. Ein Palimpsest, eine Überschreibung von Tschechows „Drei Schwestern“ und Maeterlincks „Pelleas und Melisande“ nennt der Autor Joel Pommerat sein Libretto nach dem erfolgreichen, eigenen Theaterstück. „Au Monde“ ist das zwischen surrealer Performance und Psychodrama oszillierende, kleinteilige Protokoll der Unfähigkeit einer implodierenden Familie, das gleichsam durch Abstammung erzwungene Zusammenleben auszuhalten oder zu beenden. 20 kurze Szenen voll Wut und Zärtlichkeit, mit vielen absurden Querverbindungen, etlichen Momenten der Irritation und fast noch mehr Leerstellen. In diesem Dschungel der Andeutungen ist fast nichts konkret ausformuliert, scheinen sich die Dialoge vordringlich selbst verschleiern zu wollen.
Die Bühne von Oliver Brendel ist ein Schuhkarton mit glatten, leeren, variablen Wänden, ohne Fluchtwege. Das einzige Fenster ist als Projektion leicht zu erkennen. Einzige ‚echte‘ Öffnung nach draußen ist der immer wieder sehnsuchtsvoll eingeschaltete, vom Publikum nicht einsehbare Fernseher. Wenn sich die Tür zum Schlafzimmer der jüngsten Tochter öffnet, sieht der Zuschauer auf nacktes Mauerwerk. Eine weitere Grabkammer? Eher lebensnah dagegen Andreas Beckers Kostüme, mondän-skurril für die Damen, Anzug-Uniformen für die Herren. Ewa Teilmans enthält sich in ihrer Inszenierung der deutschen Erstaufführung am Theater Aachen aller Sozialkritik und bedient leider auch den sottisenhaft im Text angelegten Humor nicht, obwohl dieser in Boesmans ein wenig glatter, vielfarbiger, doch oft nüchtern anmutender Musik durchaus Widerhall findet. Überhaupt inszeniert sie kaum von der Musik her. Mit filmisch anmutenden Szenenwechseln über Schwarzblenden rückt Teilmans dem Textnebel zu Leibe, versucht möglichst eindeutig Figuren herauszuarbeiten und Beziehungen zu definieren, ohne dabei in die Realismusfalle zu tappen. Mal abstrahiert sie, vertraut etwa die ‚Fremde Frau‘ der Tänzerin Marika Meoli an, mal lässt sie Haltungen zu Posen gerinnen, mal konkretisiert sie, mal deutet sie aus und um, häuft so Inzest und Pädophilie zusätzlich aufs Sündenregister der unglücklichen Familie. Auf diese Weise gelingt kein stringenter Abend, aber durchaus eine Perlenkette intensiver Momente, oder, um im Bild zu bleiben, von Lichtern im Nebel.
Dieser positive Eindruck hat mit einer homogenen Ensembleleistung auf, auch schauspielerisch, außergewöhnlichem Niveau zu tun. Mit schwerelos anmutendem Stimmsitz zeichnet etwa Suzanne Jerosme ein so intensives wie anrührendes Porträt der jüngsten Schwester als traumverlorene Kindfrau. Camille Schnoors mittlerer Tochter nimmt man in jeder Minute den Fernsehstar ab. Zudem bewältigt sie die mit Abstand größte Rolle von musikalisch ungeheuer differenziert, auch wenn sich ihr klangschöner Sopran gegen Ende leicht verhärtet, was der Überlänge der Partie und der Pausenlosigkeit des Abends geschuldet ist. Mühelos sonor Randall Jakobsh als glaubhaft sein Gedächtnis verlierender Vater, geradezu mitreißend lebensuntüchtig Hrolfur Saemundsson als Ori mit höhen- und pianostarkem Bariton. Auch Justus Thorau tut das seine, hält Orchester und Sänger kundig beisammen, stellt die ungewöhnlichen Orchesterfarben – die vielen Schlagwerke, Klavier und Akkordeon, die solistisch arrangierten Streicher – deutlich aus, ohne sich vor das Drama zu drängen. Nur die Klangbalance stimmte in der Premiere noch nicht ganz. Sowohl von der Bühne als auch aus dem Graben kam immer wieder mal eine Winzigkeit zu viel. Dann klang das pastellene Klanggebilde eine Spur zu laut und vibratös und verlor momentweise sein Geheimnis. Dennoch: Ein entschlossenes Plädoyer für ein postmodern rätselhaftes Stück Musiktheater.