Regisseur Jan Friedrich adaptiert Kim de l’Horizons „Blutbuch“ für das Theater Magdeburg und überführt die Romanvorlage in angemessene Theaterbilder. Der Abend lebt von einer brutalen und gleichzeitig zarten Sprache. Diese Kritik entstand für das Sonderheft DIE QUEERE BÜHNE.
Kim de l’Horizons „Blutbuch“ hat 2022 die Literaturszene aufgewirbelt. Ein Abschied von der demenzerkrankten Großmutter, eine Abrechnung mit der Mutter – und eine schmerzhafte Suche nach dem eigenen Ich, das in diesem Meer an Weiblichkeit, diesem Meer der Generationen unterzugehen droht. Kim de l’Horizon spielt mit dem berndeutschen Wort „Meer“, das „Mutter“ bedeutet, und dessen Steigerung (so fühlt es sich beim Lesen an) die „Großmeer“ ist.
Jan Friedrich hat das Buch fürs Theater Magdeburg adaptiert und spürt all der Verlorenheit, dem Schmerz und der Selbstverletzung nach, die Kim durchlebt auf dem Weg zum eigenen Ich. Als das Publikum den Saal betritt, steht die Großmutter (Iris Albrecht) auf der Bühne wie ein Denkmal ihrer selbst: gräulich-weiß im Scheinwerferlicht, erstarrt. Sie ist die Ansprechpartnerin für dieses Klagelied, an ihr arbeitet sich Kim ab.
Publikumspreis beim Radikal Jung-Festival in München
Kim selbst lässt Friedrich in mehrfacher Ausführung auftreten: Anton Andreew, Michael Ruchter, Marcel Jacqueline Gisdol und Julia Buchmann finden sich auf der Empore im Hintergrund ein, ihre Kostüme referieren auf Kim de l’Horizons Outfit bei der Verleihung des Deutschen Buchpreises. Langer Paillettenrock, durchsichtiges Oberteil, ein grünes Plüsch-Dingens um die Brust, an einer Kette ein roter Püschel. Sie sprechen die Anfangspassagen des Romans, etablieren den Abend als einen einer überwältigenden Sprache, die brutal sein kann und unglaublich zart.
Später werden sie von ihrem Sockel steigen, hinunter in die Abgründe der Wirklichkeit. Sie werden eintauchen in die Vergangenheit, in der Kim ein verletzbares und verletztes Kind war, das Carmen Steinert mit einer Leichtigkeit spielt als wäre es nicht eine der größten Herausforderungen, ein Kind zu spielen, ohne es der Lächerlichkeit preiszugeben in seiner Not. Jan Friedrich erweckt die Blutbuche als Zufluchtsort zum Leben und packt den Schmerz am eigenen Zwischen-allem-Stehen in Videos, in denen man Kim sich wahllos durch die Schwulen-Szene ficken sieht, um sich zu betäuben. Jan Friedrich ist mit seinem starken Ensemble eine Inszenierung gelungen, die glücklich macht und tieftraurig, die schmerzt und hoffentlich ein wenig heilen kann. Die die Romanvorlage angemessen in Theaterbilder überführt. Beim Münchner Radikal Jung-Festival wurde dieser Abend jedenfalls völlig zu Recht mit dem Publikumspreis ausgezeichnet.
Hier finden Sie das komplette Sonderheft DIE QUEERE BÜHNE.