Foto: Nicolai Gonther, Stephan Weber, Gilbert Mieroph, Jennifer Kornprobst und Jürgen Herold. © LTT/Martin Sigmund
Text:Wilhelm Triebold, am 15. Februar 2020
Der Allroundmusiker Heiner Kondschak ist sowas wie der Godfather des inszenierten Konzerts. Was das ist? Da wird um knackige Schmuckstücke des Rock’n’Roll oder des Rhythm’n’Blues ein einigermaßen haltbares Handlungsgerüst gezimmert, nicht selten mit biographischen Stützpfeilern versehen. Kondschaks Erfolgsmodell hat so bereits Leben und Wirken von Pete Seeger und Woody Guthrie nachgezeichnet, von Rock-Heroen wie John Lennon, Bob Dylan, Rio Reiser oder auch einer gänzlich unbekannten „Original Cover Band“: Die begab sich, ähnlich wie die Bremer Stadtmusikanten, „On the Road again – von der B27 auf die A8“. Dazu muss man wissen, dass die Bundesstraße 27 aus Kondschaks schwäbischem Heimatkosmos hinausführt, auf die vielbefahrene Autobahn ins Irgendwo – und welche Musiker, die auf sich halten, möchten nicht hinaus in die weite, vielversprechende Welt?
Wer herumreist, muss auch ankommen. Mit der neuesten Produktion „Geisterstunde im Chelsea Hotel“ am Tübinger Landestheater wird die Sehnsucht nach einem festen Halt und Ort aufgegriffen, wie ihn offenbar auch unstete Rockstars verspüren. Denn diesen Ort gab’s wirklich. Er befindet sich immer noch in New York, nördlich von Greenwich Village, heißt Chelsea Hotel und hat als legendäre Künstlerabsteige einen Ruf wie Donnerhall konserviert. Dabei ist der abgefuckte Schuppen nurmehr eine von Randexistenzen bevölkerte Dauerbaustelle. Doch der Nimbus bleibt: Hier hat Sid Vicous erst seine Freundin und bald darauf sich selbst gekillt, hat sich Dylan Thomas zu Tode gesoffen und Leonard Cohen im Aufzug Janis Joplin vernascht – oder war’s umgekehrt? Irgendwann waren sie alle mal hier, von Salvador Dalí über Andy Warhol bis Madonna. Eine reizvolle Idee, ein paar von jenen gerade noch lebendigen, mitunter aber auch schon verblichenen oder scheintoten Lichtgestalten mal wieder zusammenzubringen, um in einem Akt nicht ganz selbstloser Solidarität der unvergessenen Künstlerklause mit einem Benefizkonzert unter die Arme zu greifen.
Kondschak, der diesmal die Autorschaft der „Geisterstunde“ dem Tübinger Ensemblemitglied Andreas Guglielmetti und die Regie Jan Jochymski überließ, bleibt als musikalischer Leiter trotzdem Herr des Verfahrens. Das inszenierte Konzert am Landestheater ist, was die Sangeskünste und die Instrumentenbeherrschung betrifft, wiederum eine Wucht. Die Geschichte selbst entwickelt sich dagegen zuerst zäh. Ewige Begrüßungsrituale und nervendes Namedropping („Steve Miller – ach, der hat hier auch gewohnt?!”) zögern unter den stetig Eintrudelnden das hinaus, um das es hauptsächlich geht: eine gute, erdige, aber auch gefühlige Musiknummer nach der anderen.
Die Mutter der Rock-Kompanie ist Jennifer Kornprobst, die eine resolut-kompakte Patti Smith auf die spartanisch und hauptsächlich mit Musikinstrumenten bestückte Bühne stellt. Mit der Punklady checkt Sam Shepard ein. Und wenn dann auch Joni Mitchell, Leonard Cohen, Tom Waits und Bob Marley endlich eingetroffen sind, wird klar: Das ergibt eine illustre, mitunter explosive Mischung von Lebenden und Toten, Eitlen und Verpeilten, Angepassten und Dauerrebellen, Angepissten, Aphrodisierten und Euphorisierten. Als eine Art Chelsea-Concierge kommt noch Sixto Rodriguez hinzu, der in Südafrika der weltweit unbekannteste Superstar wurde, hier vor allem aber aufräumen soll. Er vertickt die Konkursmasse des Hotels, die abgewrackten Zimmertüren, hinter denen sich das Leben und manche so Dramen der prominenten Gäste abspielte.
Das ist eine wahre Geschichte, und auch manch anderes dürfte für Rock-Hagiographen maßlos spannend sein. Für die Übrigen rennt dieser Abend, der fast nahtlos an Kondschaks Totenreich-Revue „Forever 27“ anknüpft, dann doch zu viele offene Türen ein. Die Handlung bleibt dürftig und aufs Stichwortgeben beschränkt, während es umgehend aufregend wird, wenn die Protagonisten zum musikalischen Arbeitsgerät greifen. Der Schauspieler Stephan Weber, hauptsächlich ein knuddeliger Bob Marley und zwischendurch auch eine fiese Bob-Dylan-Parodie, erweist sich wiederum als exzellenter Leadgitarrist, mehr als nur solide begleitet von Bassist Jürgen Herold alias Sam Shepard und Gilbert Mieroph alias Leonard Cohen an der zweiten Gitarre. Dazu noch Dennis Junge, der Sixto Rodriguez am Schlagzeug Platz nehmen lässt, Hannah Jaitner als entgeisterte Joni Mitchell und Nicolai Gonther als fideler Tom Waits, die sich gelegentlich das Klavier teilen, sowie Jennifer Kornprobst, durch Gipsarm gehandicapt am Akkordeon, wovon man aber wenig merkt.
Und singen können sie alle, manchmal sogar siebenstimmig a cappella. Oft deutlich angenähert an die verehrten Vorbilder, und doch weit mehr als nur platte Coverversionen abliefernd. Kondschak hat da als Lehr-Maestro ganze Arbeit geleistet, die Grenzen im Schauspielensemble auslotend, ohne Überschreitungen zum Dilettantismus zuzulassen. Allein wegen der Musiknummern lohnt dieser Abend.
Zwei große Abwesende gibt es in der Inszenierung. Das ist zum einen der heilige Bob, der wenigstens mit jener Jerry-Jeff-Walker-Nummer („Pissin‘ in the Wind“) gehörig durch den Kakao gezogen werden darf. Und zum anderen: Godot. „Geisterstunde im Chelsea Hotel“ ist nämlich auch eine pfiffige Variante von Becketts Klassiker. Hier warten alle auf die Kommentare des allmächtigen Tontechnikers aus dem Off, einer gottgleichen Größe in der Rockszene. Mal steuert er gelangweilte Kommentare bei („Geil, Leute, daraus können wir was machen”), und dann ist er einfach weg. Aber das Chelsea Hotel, das ist immer noch da. Das ist die Hauptsache.