Foto: Heain Youn (Mrs. Page), Bettina Grothkopf (Mrs. Ford) und Maria Rüssel in "Falstaff" am Theater in Annaberg-Buchholz © Dirk Rückschloß / Pixore Photography
Text:Roland H. Dippel, am 18. September 2022
Der Komponist ist irischer Abstammung: Michael William Balfe (1808-1870) verkehrte mit Donizetti und Bellini, war eine der führenden Musikerpersönlichkeiten der britischen Inseln und landete mit „The Bohemian Girl“ auf das Textbuch des Theaterzaren Alfred Bunn nach Cervantes einen europäischen Hit. Aufgrund der spezifischen Aufführungsusancen switchte Balfe in seinen musikalischen Bühnenwerken zwischen Genres und Sprachen. Her Majesty’s Theatre in London war der Ort für italienische Oper. So komponierte Balfe das Libretto von S. Manfredo Mangioni zu „Falstaff“ auf italienisch. Der Uraufführung folgten keine weiteren Produktionen.
Die deutsche Erstaufführung ist also die zweite Inszenierung überhaupt. Das Aufführungsmaterial erstellte Valerie Langfield nach der autographen Partitur und einem alten Klavierauszug. „Falstaff“ ist die jüngste Musiktheater-Entdeckung von Intendant Moritz Gogg am Eduard-von-Winterstein-Theater in Annaberg-Buchholz. Nach Erich Zeisls „Leonce und Lena“, dem Musical „Liebesbrief nach Ladenschluss“ und der Regie von Christian von Götz zu Ralph Benatzkys „Der reichste Mann der Welt“ vertraute man diesem eine überfällige Erstaufführung an. Balfes „Falstaff“ wurde überdies die erste Produktion einer Oper am Haus in italienischer Originalsprache. Seine Adaption punktet mit einer schon unverschämt lustvollen Italianitá ungefähr auf dem Stand von Donizettis „Liebestrank“. Jede der Hauptpartien hat ihre große, meist mehrsätzige Arie mit Fiorituren und Spitzentönen an erwartbaren Stellen. Balfe übernahm stellenweise auf Verdi vorausweisenden Instrumentationsmittel mit Blech-Triolen und beglückenden Harmonien in Terzen- und Sextenparallelen.
Nichts – mit Ausnahme eines Zwischenvorhang – erinnert an Windsor Castle in der deutschen Erstaufführung. Man spielt auf einer in der Mitte nach oben gebrochenen Scheibe, die zwischen zwei Räumen hin- und herdreht. Christian von Götz hat als eigener Ausstatter seiner komödiantischen bis bizarren Spiele eine Bar bauen lassen. Eine feine Tresen-Talentprobe entwickelte er für die mit Gläsern und Gesten schalten-waltende Wirtin en travestie in tiefroter Lockenpracht. Auf der anderen, sich besser dünkenden Sphäre ist eine bürgerliche Sitzlandschaft in die Wand geschlagen. Auf Logik verzichtete von Götz weitgehend, erfand dafür eine Schule fürs Leben mit Clowns, Narren und Akrobaten. Auch die Kostümideen kommen von ihm. „Normal“ ist am Ende nur Falstaff selbst, wenn am Ende die bunten Bürger*innen ihn in einen für dieses Ambiente recht tristen Trenchcoat stecken und zu stumpfer Büromaloche verdammen. Das ist die Strafe für Falstaffs Nonkonformismus und seine abenteuerlichen Spielideen für die lustigen Frauen von Windsor.
Perlen an Witz und Aktionslust
Bei einem solchen Ende bricht auch Il bello Will zusammen, eine lyrisch-artistische Hilfsfigur für die dramatischen Schnittstellen. Die Schauspielerin Nadja Schimonsky übernimmt für das Sängerensemble alle gestrichenen Rezitative. Sie zitiert aus Mosenthals „Lustige Weiber“-Textbuch für Nicolai, taucht Hiebe- und Triebe-Argumente in emotionale Prosa, Verse und Moderatricen-Slang. Der schöne Will(iam) sorgt auch für den poetischen Überbau in Shakespeare’schen Dimensionen. Akrobatisch und klug ist das. Zudem bleibt kein Klischee-Baustein auf dem anderen. Oft sind „Das Lächeln am Fuße der Leiter“ oder „Kinder des Olymp“ viel näher als das solide Humor-Niveau vom Wanderzirkus um die Ecke. Das Sparen an den Rezitativen war die einzige Möglichkeit, um das vertraut-unvertraute Spiel auf drei Stunden Spieldauer zu bringen.
Im Ensemble des Winterstein-Theaters finden sich wahre Perlen an Komödiantik, Witz und Aktionslust. Hier ist Falstaff kein zum Übergewichtigen hergerichteter Nerd, sondern ein fast trauriger Clown, der anderen die Tore zu ihren verborgenen Seiten öffnet. Balfe komponierte seinem Falstaff Pompöses, Lyrisches und Galantes. László Varga in der Titelpartie, Jason-Nandor Tomory als Ford mit sehr wirkungsvoller Klagearie sowie der als Harlekin mit Kopfstimme in zirzensische Wunderhöhen vordringende Fenton von Wjatscheslaw Sobolev haben nicht Bauch, sondern Eleganz und bringen schöne vokale Feinheiten in Balfes mitunter sehr direkte Melodiegebung. Das bisher noch nicht in italienischer Diktion und noch selten in Belcanto-Grammatik geschulte Ensemble macht seine Sache beeindruckend gut. Manchmal – wie im Duett von Annetta Page (Maria Rüssel) und Fenton, wenn sich das Paar umkreist wie Artisten im Luftraum – hört man sogar das Glitzern der sprichwörtlichen Belcanto-Träne.
Neben den Männern, die über toxische Vorhaben mehr quatschen als diese ausführen, gibt es Frauen zum Staunen. Beim dreimaligen Anlauf zum Techtelmechtel von Rosa Ford mit dem schönen Clown Falstaff wirkt das Hinweisschild „Brutto sessista“ (Mieser Sexist) wie Hohn. Denn die fesche Rosa ist eine bestens erfahrene und ernstzunehmende Anhängerin des britischen Lasters. Aber Flaggellationsszenen bleiben bei von Götz nur Kopfkino und sind so wenig vorgesehen wie nackte Haut oder das Tier mit den zwei Rücken. Dafür sind die Kostüme einfach viel zu schön, Jinsei Park als Gewichtstemmerin Meg Page zu konzentriert und Bettina Corthy-Hildebrandt zu schmächtig. Bei Balfe geraten die dramaturgischen Gewichte und Scharniere im Zirkusvolk von Windsor etwas anders als bei Verdi und Nicolai, bei ungebrochenem Wiedererkennungseffekt.
Mehrfach vergleicht Rosa ihren Ehemann Ford mit dem attraktiven Ehe-Störer Falstaff. Die Entscheidung wackelt also häufiger als in einer vorbildlichen Ehe zulässig zwischen dem Versorger und dem Galan. Nur deshalb bröseln bei Bettina Grothkopf auch einige Töne, bevor sie ihr Rondò im Finale zur leichtgeschürzten Charmeoffensive ausbaut. Da macht sie gute Miene zum bösen Spiel, wenn Falstaff als durch Aktenstaub gezähmter Widerspenstiger den Kürzeren zieht.
Jens Georg Bachmann ist mit der Erzgebirgischen Philharmonie ein ebenso kooperativer Partner der Regie wie Leszek Kuligowskis unmerkbare, weil stufenlos mit der Personenführung verblendete Choreographie. Wenn es in den Duetten mit den vielen Schattierungen von wahren, eingebildeten und vorgeblichen Gefühlen nicht ganz zu den Glückswolken von Donizetti und Bellini kommt, liegt das an Balfe. Und daran, dass alle mitteleuropäischen Opernhäuser auf dem Kontinent betreffend britischen Belcanto noch blutige Anfänger sind. Der von Jens Olaf Buhrow und Daniele Pilato einstudierte Chor hätte eine größere Präsenz auf der Bühne verdient. Am Ende: Viel Jubel.