Foto: Vorabfoto zur Uraufführung "Orlando" in Braunschweig © Volker Beinhorn
Text:Andreas Berger, am 22. April 2016
Mit der Uraufführung von Peter Aderholds „Orlando“ ist dem Staatstheater Braunschweig ein kleines Gesamtkunstwerk gelungen, das wie wohl selten moderne Werke Zeug hat zum Kult. Regisseur Roland Schwab, Bühnenbildner Alfred Peter und Kostümbildnerin Gabriele Rupprecht tauchen das Werk mit flackernden Kerzen und schwebenden Totenköpfen in eine Art Gothic-Atmosphäre, wie sie passen würde zum Ruinenschlosses von Vita Sackville-West, der dieser Orlando von ihrer Geliebten Virginia Woolf auf den Leib fantasiert wurde. Auf der gefällten Eiche aus Orlandos Gedicht als Laufsteg tragen Mannequins Phantasiekostüme, die aus verschiedenen Epochen leihen und die Geschlechtergrenzen verschwimmen lassen. So wie es Orlando auf seiner Lebensreise durch die Jahrhunderte und Geschlechter widerfährt.
Auf all dies schaut das Publikum wie im Shakespeare-Theater von allen Seiten und darf Spaß haben an Jungs im Dekolleté, Frauen mit Schiffen im Haar, zuletzt einem Astronauten, der Orlando über die eigentliche Romanzeit hinaus in unsere Gegenwart führt. Tenor Matthias Stier singt prachtvoll die bärtige Königin auf dem Lichterthron. Rossen Krastev intoniert mit wohligem Bass den ess- und trunksüchtigen Kritiker. Mirella Hagen schwingt sich als plüschwölfig verpackte Russenprinzessin auf herrliche Sopranhöhen. Und Anne Schuldt lässt ihren weich tönenden Mezzo als Pepita unter orientalischer Ganzkörperverschleierung tönen.
Unter ihrer Zudringlichkeit wird der Reisende Orlando zur Frau: Von Schwab geschickt ins Gegenlicht gesetzt, schimmert hier Milda Tubelytes wahrer Körper unter dem verbliebenen Hemdchen, ein wunderbarer Moment existentieller Selbstbestätigung im Wandel der äußerlich aufgesetzten Sexualitäten. Nach der Pause setzt sie ihre Reise in Frauenkleidern fort, wundert sich über die Unbequemlichkeit von Kleidern und das viktorianische Verdikt, nun Frauen nicht mehr lieben zu dürfen. Und findet in dem schwulen Shelmerdine das passende Pendant, um als Ehefrau in Trennung wieder ihre Freiheit leben zu können (wie Vita Sackville-West).
Milda Tubelyte spielt und singt das hinreißend. Mit ihrem schlanken Leib entfaltet sie betörend schöne Androgynität, während ihr bruchlos-weicher Mezzosopran sich von glutvollen Höhen bis in die Reflexionen in tieferen Lagen sinnlich warm verströmt. Trotz zwei Stunden Dauerpräsenz bleibt ihre Stimme stets vorbildlich ausgeglichen und schafft mühelos dramatischere Aufschwünge.
Librettistin Sharon L. Joyce hat den biografisch-fantastischen Reigen noch durchsetzt mit Virginias Ringen um dieses in Literatur verewigte Liebesmanifest. Lydia Moellenhoff mischt sich sprechend von der Schreibmaschine am Bühnenrand aus ins Geschehen. Am Ende tippt sie an Orlandos Stelle auf der Bühne weiter, als liebende Schriftstellerin selbst literarische Figur geworden, während Orlando unsterblich weiterlebt.
Peter Aderhold hat dazu eine sinnlich fließende Musik komponiert, in der sich weiche Streicherpassagen und aufrüttelnde Bläserstöße mit kammermusikalischen Einwürfen von Klarinette, Flöte, gezupften Geigen oder Cello abwechseln, die sich den Stimmen zum Partner machen. An den Episodenübergängen läuten Glocken die neue Zeit ein. Während in der Renaissance-Passage das Cembalo klingelt, im Orient das reizvolle Cimbalom vibriert und im Frost Bläser glucksen und Streicher kratzen, wird die Musik im zweiten Teil romantisch-voller. Chromatisch-schöne Streichermelodien, fast jazziges Klavier rauschen auf, vereinzeln sich mal nur in tiefe Streicher zu gesprochenem Text, mal nur zu hohen Geigen vor dem Kuss zwischen Orlando und ihrer Schöpferin Virginia, kennen dann aber auch modernes Crescendo, durchaus brittenlike. Aderhold erweist sich als stimmungsvoller, melosgeneigter, dramaturgisch ausdeutender Komponist von suggestivem Eigenton. Und Christopher Hein hält dies alles über zahlreiche Monitore der Raumbühne perfekt in Drive.