Foto: Verdrängung durch Schmerz in der Trash-Klinik. Mickael Spadaccini (Hoffmann, im Vordergrund)) mit Sara Hershkowitz (Giulietta) und Lucia Lukas (Dapertutto) © Jens Großmann
Text:Andreas Falentin, am 19. September 2016
Wesentlicher Eindruck dieses als Ganzes betrachtet anregenden und lebensfähigen Theaterabends ist eine Flut irritierender Details. Verantwortlich hierfür ist vermutlich in erster Linie der Intendant Berthold Schneider mit seiner Idee, den Prolog und die drei Akte von „Hoffmanns Erzählungen“ vier verschiedenen, besonders auf der britischen Insel hochrenommierten Regisseuren anzuvertrauen. Das Ergebnis sieht aus, als habe die Dramaturgie ihnen die Vorgabe gemacht, die Rolle, besser: die Überlebenschancen von Kunst und Künstler in einer sich immer stärker ökonomisierenden Gesellschaft zu hinterfragen und möglichst hintersinnig, knallig und skurril aufzubereiten.
Auch weit über 100 Jahre nach dem Tod des Komponisten ist „Hoffmanns Erzählungen“ ein Sonderfall, ein erratischer Block in der Operngeschichte, sowohl durch seine einzigartige, avancierte Dramaturgie, als auch durch die ungeheuer disparate Überlieferungssituation. In Wuppertal hat man sich bei den beiden letzten seriösen Editionen – Keck und Keye – bedient und eine eigene Mischfassung erstellt, mit Kürzungen und Umstellungen besonders im Olympia-Akt und einem ungemein wirkungsvollen Schluss. David Parry leitet diese Version mit Understatement und Wirkungssicherheit, als hätte er nie eine andere dirigiert.
Jeder der drei Akte lebt theatralisch aus einem Bildentwurf, expressionistischer Stummfilm für Olympia, viktorianisches Sanatorium für Antonia, postmodern kalte Lustklinik für Giulietta. Sara Hershkowitz macht sich mit schlank geführtem, leicht wächsern timbrierten Sopran alle vier Frauen, auch die angebetete Stella, leidenschaftlich zu eigen und wird so wie von selbst zum Mittelpunkt der trashigen Show. Zu ihrem Gegenspieler wird Lucia Lukas, eine Frau als Bariton, möglich durch eine 2014 vorgenommene Geschlechtsumwandlung. Sie lebt von ihrer gewaltigen Präsenz und Stimmkraft, ihrem Charme und ihrer Hemmungslosigkeit, setzt am Anfang auf dem Thatcher-Merkel-Bild der gefühlsarmen Mutti-Politikerin auf, fügt diesem aber eine brodelnd erotische, nahezu dämonische Komponente zu, die besonders im Antonia-Akt nahezu ungezügelt hochkocht. In diesem Umfeld hat es der in jeder Hinsicht bewegliche Mickael Spadaccini nicht leicht mit dem Titelhelden, den er im Prolog expressiv etabliert, der aber dann von den Regisseuren, die Akte zu erzählen, aber nicht Figuren darüber hinaus zu entwickeln haben, an den Rand gedrückt oder zumindest arg sachlich behandelt wird. Es ist fast tragisch zu nennen, dass Spadaccini ausgerechnet, als dieses eingeschriebene Dilemma für einige Momente überwunden wird, in der ‚Spiegelbildamputation‘ des Giulietta-Aktes, Probleme hat, die Stimme zu kontrollieren. Hier hat Inga Levant ein stimmiges, starkes Bild gefunden, Lustgewinn und Verdrängung durch Schmerz, das vor allem diesen sonst so oft hinter dem Niveau zurückbleibenden Akt aufwertet.
Auch musikalisch lebt dieser Abend von unterschiedlichen Zugängen. Lucia Lukas gestaltet, genau wie Mark Bowman-Hester in den Dienerrollen und Kerstin Brix, eine Muse in der Erscheinungsform einer betrunkenen Dramaturgin, stark vom Wort und der Situation her. Das klingt gar nicht nach klassischer Oper und tut Offenbach unheimlich gut, was aber auch für Catriona Morison gilt, die die Musen-Inkarnation Niclausse in Kombination mit der Stimme von Antonias Mutter mit traumhaftem Schöngesang zur Rolle der Kunst an sich formt. Dazu beleben Chor und Orchester den Abend mit hörbarem Engagement. Wuppertal hat endlich wieder ein Opernhaus.