Foto: Familienbande: Nelly Politt, Stefan Schleue und Katrin Hauptmann © Marco Piecuch
Text:Martin Krumbholz, am 12. Mai 2024
Shakespeares „König Lear“ zeichnet eine komplexe Familiengeschichte um Macht und Ohnmacht zwischen den Generationen. Die Inszenierung am Rheinischen Landestheater Neuss bewältigt das in der Inszenierung von Tom Gerber achtbar, übernimmt sich allerdings mit dem Versuch das abgewirtschaftete Patriarchat anhand dieser Tragödie grundsätzlich mit zu erledigen.
„König Lear“, Shakespeares genialstes und bitterstes Stück, spielt in heidnischer Vorzeit in England. Angesichts der Inszenierung in Neuss könnte man allerdings annehmen, Ort der Handlung sei Japan: Die Akteure tragen unisono schwarze Beinkleider mit weißen Oberteilen, ihre Gesichter sind partiell schwarz geschminkt, sie laufen mitunter in Trippelschritten, ihre Hände sind dabei abgespreizt (die Ausstattung stammt vom Regisseur Tom Gerber). Deutliche Anleihen am Nō-Theater sorgen für einen Verfremdungseffekt und bauen jedem Naturalismus rigoros vor.
Zwischen Karikatur und vielschichtigem Figurenporträt
Gespielt wird die Übersetzung und Bearbeitung von Thomas Melle, die den Text strafft und in ein heutiges Idiom bringt. Der Versuch, das als eher antifeministisch geltende Drama gewissermaßen geschlechtergerecht zu unterwandern, erweist sich dabei als komplex. Der Patriarch Lear, der am Abend seines Lebens sein Reich aufteilt und seiner Lieblingstochter Cordelia tiefstes Unrecht zufügt, wofür er schwer büßen muss, ist zweifellos die tragische Figur des Stücks. Stefan Schleue in der Titelrolle versucht auch gar nicht, den alten Mann mit affektiven Ressentiments zu markieren; am Schluss, wahnsinnig und nackt, wirkt er schutzbedürftig wie ein Baby und verdient jedes Mitleid.
Und die bösen Schwestern (Nelly Politt, Katrin Hauptmann) sind nun einmal grundböse, da ist wenig zu retten. Anders als Lear, dessen Erscheinungsbild sich öfters wandelt, sind sie durchgängig an ihr strenges Outfit gefesselt, was sie fast zu Karikaturen tendieren lässt. Letztlich verläuft das Drama, auch in Melles Version, konträr zu aktuellen Debatten. Wenn am Schluss der Königsthron symbolisch verbrannt wird, während die vielen „Toten“ wiederauferstehen, ist das nicht viel mehr als ein stummer Protestschrei, der ein wenig aufgesetzt wirkt.
Menschen oder System?
Das neunköpfige Ensemble in dieser letzten Inszenierung der Intendanz von Caroline Stolz schlägt sich achtbar. Die interessanteste Figur ist dabei, neben Schleues Lear, der von Antonia Schirmeister gespielte Narr, hinter dem sich Lears (einziger) Vertrauter Graf von Kent verbirgt. Der Narr ist der Einzige, der Lear die Wahrheit zumutet, der ihn auf seiner leidvollen Odyssee begleitet; Schirmeister macht eine teils bizarre, glaubwürdige, geheimnisvolle Figur daraus. Annähernd vergleichbar damit ist der ebenfalls gutartige Edgar (Benjamin Schardt), der sich in seiner Verpuppung als Idiot „Major Tom“ nennt. Die berühmte Szene, in der Edgar seinen blinden Vater (hier seine Mutter) scheinbar von einer Klippe bei Dover springen lässt, hätte allerdings sinnfälliger pointiert sein können.
Unterm Strich erweist sich der Versuch, anhand eines außerordentlichen Dramas ein „System“ in Frage zu stellen (Programmheftsound), als gut gemeint, aber zweifelhaft. Denn Shakespeare handelt nicht von „Männern wie Lear“ (dito), sondern von Menschen mit ihren Selbstwidersprüchen.