Foto: Der Chor des Staatstheaters Darmstadt © Welz/Müller
Text:Ulrike Kolter, am 21. April 2016
Dass einen dieser Abend so wenig mitnimmt in die tiefen Gefilde der menschlichen Uremotion Angst, die namensgebend für Christian Josts Komposition war, liegt keinesfalls an der musikalischen Umsetzung dieser Darmstädter Produktion – die ist unter der musikalischen Leitung von Thomas Eitler-de Lint hervorragend, die Damen und Herren des Hauschores leisten Phänomenales in diesem nur einstündigen Werk, das die Bedeutung des Chores im Musiktheater neu definieren will. Sie flüstern und säuseln, intonieren klar und tun ihr bestes, um angemessen Haltung zu verströmen in diesen weißen Ganzkörperpapieranzügen. Doch wird in der „szenischen Installation“, wie sie der regieführende Hausherr Karsten Wiegand selbst nennt, das Problem einer adäquaten, sinnstiftenden szenischen Umsetzung deutlich. Die bleibt der Abend dem Publikum, vor allem aber dem Werk schuldig.
„Angst“ entstand als Auftragskomposition für den Rundfunkchor Berlin, erlebte 2006 seine Uraufführung und 2009 eine szenische Neuproduktion an der Berliner Komischen Oper, wo Jost dazumal Composer in residence war. Es ist laut Verlagsangabe (Josts Werke erscheinen allesamt bei Schott Music) als szenisches Oratorium oder konzertant aufzuführen. Grundlage für die fünf Teile ist ein reales Ereignis: die Tragödie zweier Bergsteiger bei der Erstbesteigung eines Sechstausenders 1985 in den Anden, bei der einer von beiden abstürzt. Dieser Joe Simpson verarbeitete seine Erlebnisse in dem späteren Bestseller „Sturz ins Leere“, schildert darin eindrücklich die existentielle, kaum vorstellbare Nahtoderfahrung. Der Zweite, Simon Yates, hatte seinen abgestürzten Kameraden nach einem gescheiterten Abseilversuch nicht mehr halten können, zerschnitt kurzentschlossen das Seil zu dem unter ihm hängenden Kameraden, wohlwissend, ihn damit dem Tod auszuliefern. Wider alle logischen Naturgesetzte überlebte Simpson schwerverletzt den Sturz in eine Gletscherspalte, kroch mit schmerzender Unterschenkelfraktur und Erfrierungen ohne Nahrung tagelang durch Schnee und Eis zurück ins Basiscamp – und wurde gerettet.
Kaum vorstellbar ist, welche Kaskaden von Angst ein Mensch in solchen Momenten durchlebt, um zu überleben. Jost hat deshalb in seiner Komposition fünf „Pforten“ quasi als individuelle Zugänge zum psychologischen Phänomen Angst musikalisch abgebildet. Der Chor ist einziger Handlungsträger (es gibt keine Solisten!) und schildert eindrücklich alle Innerlichkeit der fünf Teile: I „Fallen“ (die Reflexion des Abstürzenden), II „Hölderlin“ (die literarische Verarbeitung mittels Hölderlins wohl meistzitiertem Gassenhauer „An die Parzen“), III „Kalt“ (Angst als Kindheitstrauma), IV „Amok“ (wissenschaftliche Erklärungen von Flashbacks und Kriegstraumata) sowie V „Ab“ (der Sturz aus Sicht des gescheiterten Retters). Erneut beweist der produktive, überaus erfolgreiche Klangmaler Christian Jost seine Stärke für atmosphärische Kontraste, nicht umsonst werden seine Werke nachgespielt, ist „Angst“ immerhin die dritte Produktion.
Leider nur weiß die Inszenierung dem wenig hinzuzufügen. Man sitzt auf der Hinterbühne des Großen Hauses, blickt auf das kleine Orchester (lediglich Flöte, Klarinette, Trompete, Vibrafon, Klavier, Celli und eine Bassgitarre) und eine weiße Treppe, auf der sich (nach Teil I im Zuschauerraum) der schneeweißbekleidete Chor einfindet. Auf diese Stufen (Bühne: Bärbl Hohmann) werden Videos projiziert, die in ihrer plakativen Bebilderung der Handlung vor allem eins tun: stören. Zwar sind sie durch die Stufen gebrochen, verfremdet also, dennoch entsteht kaum ästhetischer Mehrgewinn beim Anblick von verschneiten, am Seil hängenden Bergsteigern mit Eispickel (I, der Sturz), einem wirr umherblickenden Jungengesicht (III, das Kindheitstrauma) oder dem wurmigen Abbild eines menschlichen Gehirns (IV, wissenschaftliche Ansätze zu Angst). Lediglich der auf weiße Leinwände an der Decke projizierte, in Wolken dahinfliegende Himmel unterfüttert die archaische Gewalt der Berg-Episode mit Freiheit, Göttlichkeit, Vergänglichkeit.
Bewegend gelingen jene Momente, in denen die Musik Oberhand gewinnt: beim Alt-Solo über eine Folterszene in der Badewanne (formidabel vorgetragen von der Choristin Anja Bildstein), im sechsstimmigen a cappella-Frauenchor der Hölderlin-Vertonung (II) und im musikalischen Höhepunkt des letzten Teils, ein hektisches, Panik-durchflutetes Stimmengewirr in Fortissimo. „Halte fest / woran?“ fragt Jost hier mit Simon Yates, frage ich mich, betroffen zum ersten Mal an diesem Abend. Die Angst loszulassen, ist sie nicht uns allen eigen?