Natürlich hat sich William Kentridge für „Sibyl“ nicht auch nur ansatzweise neu erfunden. Die Lebensthemen, das Verhältnis zu seinem Heimatland Südafrika, die Frage, wer man ist und was man bewegen kann als Künstler in dieser Zeit und die noch größere Frage, was der Mensch mit seiner Welt macht und wie sich das ändern kann und soll, sind in jedem Moment der nur 80 Minuten währenden Aufführung präsent. Genauso die bekannten Bildembleme: Die Arbeit im eigenen Atelier, der Schalltrichter auf dem Dreifuß, das offene Grab in Schwarz-Weiß-Animation. Und natürlich ist „Sibyl“ wieder Theater am Kreuzweg, da, wo sich die Linien von bildender Kunst, Theater, Musik und Film schneiden.
Erst Film, dann Kammeroper
Der einleitende Kurzfilm „The Moment Has Gone“ befasst uns vor allem mit dem Künstler William Kentridge und seinen Mitteln, dem Umgang mit Kohle zur Farb- und Formgebung, mit Struktur, mit Animation, mit Kompilation verschiedener Materialien. Immer wieder erscheint er doppelt im Bild in seinem Atelier in Johannesburg, wobei ein Kentridge stets den anderen beobachtet und der andere sich stets beobachtet fühlt – bei seiner inzwischen jahrzehntelangen Aufarbeitung der schlichten Tatsache, dass er weiß ist und seine Heimat Südafrika, wo die schwarze Mehrheit über 200 Jahre lang von weißen Menschen unterdrückt wurde. Wie gesagt, ein Lebensthema, gewissermaßen unendlich. Zu diesem Film gibt es Live-Musik. Deren einer Komponist, Kyle Shepherd, sitzt am Klavier, der andere, Nhlanhla Mahlangu, ist für die Chorsätze zuständig und steht hier als Teil eines Vokalquartetts vor der Leinwand. Ihr Gesang enthält Jazz- und Folklore-Elemente, mal solo mit gesummter Begleitung, mal zwei-, mal vierstimmig, schlank wallend, obertonreich, ungeheuer klangsinnlich. Alle vier Stimmen lernen wir einzeln kennen. Besonders den sonoren Bass von Mahlangu, der auch in höheren Lagen ganz schlicht und selbstverständlich artikuliert, und die Stimmfarben und die Klangakrobatik von Sbusiso Shozi werde ich nicht vergessen.
Jetzt wissen wir, wo wir sind. Nach einem kurzen Umbau folgt „Waiting for the Sibyl“, von Kentridge als Kammeroper bezeichnet. Es soll um die Sibylle von Cumae gehen, eine Prophetin. Nach einer antiken Sage sah sie das Schicksal vieler Menschen voraus und schrieb dieses auf Blätter, die vom Wind verwirbelt wurden. So erfuhren Menschen Schicksale, konnten aber nie sicher sein, dass es sich um ihr eigenes handelt.
Diese Geschichte erzählen weder William Kentridge noch seine Komponisten (wieder Kyle Shepherd, wieder am Klavier, wieder Nhlanhla Mahlangu, wieder singend auf der Bühne). Sie ist vielmehr der Ausgangspunkt für eine szenische Fantasie mit einem umwerfenden Ensemble aus neun schwarzen Sänger:innen und Tänzer:innen in den in Südafrika am meisten verbreiteten Sprachen, in Zulu, Xhosa, Sesotho, Ndebele – und Englisch. Zum einen geht es dabei um die Geworfenheit des Menschen an sich in ein Leben, das keinen Anker, keine Sicherheit, keine Götter mehr bietet, andererseits um Verantwortung für die Welt und für das eigene Leben – und die Schwierigkeit, sich in diesem zu orientieren.
Dabei spielt Papier eine große Rolle. Schon die Filmleinwand ist mit einer Projektion alter Papiere grundiert, über die „The Moment Has Gone“ projiziert wird. Auch in der Kammeroper gibt es Projektionen und Schattenspiele auf Altpapiergrundierung. Immer wieder werden Sprüche auf die Leinwand geworfen. Wir werden etwa aufgefordert, uns von „Last Year’s Socks“ und „Last Year’s Hopes“ zu verabschieden, im Hier und Jetzt zu leben. Dazu tanzt faszinierend Thandazile Radebe in der Mitte der Bühne, als wollte sie tatsächlich alle diese Sprüche aus sich hervorbringen. Dazu nimmt ein Mann immer wieder Papiere auf. Hält er sie ans linke Ohr, erklingen Frauen-, hält er sie ans rechte Ohr, erklingen Männerstimmen. Bedeckt er beide Ohren, kann er es nicht mehr aushalten. Vorhang. Wir sehen auf eine feingliedrige, schwarze Skulptur, darauf projiziert: Ein Mobile? Ein stilisierter Baum? Sie beginnt sich zu drehen. Ist das William Kentridges Nase? Am Ende ahnt man eine Schreibmaschine.
Viele Reize, aber keine Überflutung
Eine Flut von Reizen – und kleinen, sanft ironisierten und doch ernst gemeinten Appellen – bietet dieser Abend, aber keine Überflutung. Immer bist Du frei, darfst, musst selbst denken und empfinden. Nichts wird vor-, wenig definiert zugeschrieben. Die Tableaus entwickeln sich, machen nachdenklich, amüsieren auch, plätschern aber nicht, rauschen nicht vorbei. Spannungsfelder entstehen nahezu von selbst. So ist das Ganze ein Bekenntnis zum analogen Leben, mit dieser rhythmischen, vom Klavier aus oft experimentell überformten Musik, die einen über die warmen, durchlässigen Timbres und den so entspannten wie kraftvollen, mehrstimmigen Gesang geradezu umarmt. Und doch lebt Kentridges Kunst, der Film zeigt es überdeutlich, auch von digitalen Mitteln, allerdings von individuell beherrschten. „Lasst den Algorithmus verhungern“, erscheint irgendwann auf Papier. Ein Gag oder ein Statement? Der Tod der alten Götter wird erklärt, aber die mythische Figur der Tänzerin, die nicht nur in der ersten Szene erscheint, wird deutlich mystisch überhöht. Die Gemeinschaft wird gefeiert und doch scheint jeder, jede Einzelne auf der Bühne auch immer allein zu sein. Und das alles macht nichts, kurbelt nur und vor allem die innere Assoziationsmaschine an – wobei die Maschine an sich auf dem dritten Zwischenvorhang auch ihr Fett wegbekommt.
„Haltung und Hoffnung“ ist das Motto der diesjährigen Ruhrfestspiele, die nach zwei Jahren endlich wieder in Präsenz stattfinden. Das Theaterfest „Sibyl“ erscheint auch in dieser Hinsicht als ideale Eröffnungsproduktion. In ihrer eigenwilligen, charmanten Keynote ermunterte die Schriftstellerin Sharon Dodua Otoo dazu, Geschichten besser, vor allem sinnstiftender zu erzählen, ohne dabei die Fakten zu vernachlässigen. Auch hierfür erscheint „Sibyl“ zumindest als großartiger Ausgangspunkt.