Foto: Lisa Scheibner, Thomas Harms, Thomas Pötzsch, Niklas Kohrt, Stephanie Schönfeld, Angelika Waller, Christian Ehrich © Bernd Uhlig
Text:Gunnar Decker, am 30. März 2025
Nach dem Roman „Wege übers Land“ von Helmut Sakowski wird am Landestheater Neustrelitz eine fünfeinhalbstündige Inszenierung uraufgeführt. Zu langwierig ist sie nicht. Der harte Stoff wird mit Regisseur Maik Priebe zu einem denkwürdigen Abend mit vielen Fragen an Akteure und Betroffene von Geschichte.
Eine Frau will nach oben. Aber wo ist oben im Leben? Für Gertrud Habersaat, die Tagelöhnertochter, die sich mit Ehrgeiz und Härte hocharbeitet, hat das Oben einen Namen: Bäuerin auf eigenem Grund und Boden. Aber die alte Herrin des Gutes in Rakowen in Mecklenburg sagt: „Eine wie du wird nun mal nicht Bäuerin.“ Die nun folgende Geschichte scheint nur dazu da zu sein, diesen Fluch zu überwinden.
Die Bühne von Susanne Maier-Staufen ist grandios in ihrem Minimalismus. Anfangs legt sich auf das Halbrund des Bühnenhintergrunds ein hoher norddeutscher Himmel mit tiefen Wolken und Vögeln. Vorn stehen mit weißen Tüchern abgedeckte Metallgestelle – sie müssen schließlich einer großen Hakenkreuzflagge weichen, denn wir haben Herbst 1939 und Deutschland hat Polen besiegt. Die Hakenkreuzflagge muss ausgerechnet ein Kommunist anbringen, natürlich gegen seinen Willen. Wir hören das Lied „Kein schöner Land“ – und wissen, diese Idylle ist vergiftet.
Von 1939 bis in die Sechziger
Nach fünfeinhalb Stunden „Wege übers Land“ hier am Landestheater Neustrelitz ist man beglückt und traurig zugleich. Denn der Weg Gertrud Habersaats von 1939 bis in die Sechziger Jahre der DDR, war von Helmut Sakowski für den im September 1968 ausgestrahlten fünfteiligen Fernsehfilm von Martin Eckermann geschrieben worden. Ein deutscher Erziehungsroman, knietief durch jenen „Mischmasch aus Irrtum und Gewalt“ watend, als den Goethe die Geschichte bezeichnete. Aber er endet unbedingt optimistisch: „Die Zukunft liegt in unserer Hand!“, so die Botschaft.

Stephanie Schönfeld, Flavia Lovric-Caparin, Jonas Holdenrieder. Foto: Bernd Uhlig
Tat sie das wirklich? Der DDR-Sozialismus scheiterte, nicht 1961 mit dem Mauerbau, in den Jahren danach eröffneten sich paradoxerweise ungeahnte Möglichkeiten, auch für die Kunst. Aber schon im Dezember 1965 stürzten die hochfliegenden Träume von einem demokratischen Sozialismus ab. Das „Kahlschlagplenum“ verbot zahlreiche Bücher und zwölf von vierzehn DEFA-Filmen des Jahrgangs 1965.
Begierig auf harte Kost
Ist das Schnee von gestern? Nein, ein konzentriert dieser Geschichte folgendes Publikum im ausverkauften Landestheater Neustrelitz nimmt die harte Kost begierig auf. Ganz und gar nicht von außen, von seinem Ende her, sondern von innen heraus wird das Projekt eines „anderen Deutschland“ entwickelt. So hören wir hier: „Dass man nicht fertig werden kann mit dem, was war. Die Vergangenheit steht immer wieder auf.“ Im Guten wie im Schlechten.
So wie hier in dieser denkwürdigen Inszenierung wird Geschichte heute selten erzählt. Man weiß, wie es endete – aber weiß man auch, welche Hoffnungen damit starben? Dass der Erzählbogen bis in die Gegenwart reicht, dafür steht Angelika Waller, die hier als Gast die Mutter von Gertrud Habersaat spielt, eine Trinkerin und unordentliche alte Frau, die ihrer strebsamen und ehrgeizigen Tochter Gertrud peinlich ist. Angelika Waller spielte – sechzig Jahre ist das her und doch etwas, das immer noch wütend macht – 1965 die Hauptrolle in dem Film von Kurt Maetzig „Das Kaninchen bin ich“. Der Film wurde sofort verboten. Fast hätte so ihre Laufbahn als Schauspielerin gar nicht erst angefangen. 1976 bekam sie im Fernsehmehrteiler „Abschied vom Frieden“ wieder eine große Rolle, nach der Biermann-Ausbürgerung aber wurde die Ausstrahlung um mehrere Jahre verschoben. Denn einige der Hauptdarsteller wie Manfred Krug waren inzwischen im Westen. All das lebt in den „Wegen übers Land“ weiter, weil auch die deutsche Geschichte nicht endet.
Lang aber intensiv
Regisseur Maik Priebe hat in Neustrelitz ein Tableau aus lauter Fragen an uns als Akteure und Betroffene von Geschichte auf die Bühne gestellt. Nein, es geht nicht bloß um Opfer hier und Täter dort (wie schon im Fernsehfilm von 1968 nicht), sondern um jenes Drama, in dem Opfer und Täter in ein und der derselben Person auftreten: Gertrud Habersaat. Im Fernsehfilm verkörperte sie Ursula Karusseit, es wurde die Rolle ihres Lebens. Hier ist es Stephanie Schönfeld, die Gertrud Habersaat auf eindrucksvolle Weise mit unerhörter Energie und Ausdruckskraft durch diesen langen Abend trägt. Lang ja, aber nie ins Breite gehend, sondern immer auch intensives Kammerspiel der präzis agierenden Akteure.

Jonas Holdenrieder, Flavia Lovric-Caparin, Stephanie Schönfeld. Foto: Bernd Uhlig
So haben wir hier Teil am langsamen Erwachen von Mitgefühl in der kalten Egoistin Gertrud Habersaat. Das Monstrum wird Mensch – fast wider Willen. Sie heiratet den aasigen Emil Kalluweit, den Christian Ehrich mit einem Hauch von Verzweiflung ausstattet, so dass auch er als Mensch erkennbar bleibt. Kalluweit ist erst einmal ein Gewinnler der NS-Herrenmenschenideologie, der im besetzten Polen einen Bauernhof übernimmt – einen, den man polnischen Bauern geraubt hat. Jetzt könnte sich Gertrud Habersaat doch am Ziel sehen? Aber es befällt sie ein großes Unbehagen. Eine Stimme in ihr, das Gewissen, sagt ihr, dass dies ein Verbrechen ist. Und so kommt sie zu ihrem ersten Kind, einem jüdischen Mädchen, das sie heimlich bei sich aufnimmt. Sollte sie es etwa ins Gas gehen lassen? Es folgen zwei weitere Kinder, die schließlich bei ihr leben. Und die Flucht aus Polen.
Die eigene Geschichte?
Als der Krieg zu Ende ist, wird sie, nach der Bodenreform, tatsächlich eine selbstständige Bäuerin – aber nur auf Zeit. Dann soll auch in Rakowen eine Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG) entstehen. Was, die Starken müssen die Schwachen mitschleppen? Nicht mit ihr! Am Ende dann natürlich doch mit ihr, schon um ihrer Kinder willen. Das Publikum folgt diesem fünfeinhalbstündigen Abend konzentriert bis zum letzten Augenblick, als würde dort vorn noch immer die eigene Geschichte verhandelt. Und dann steht der ganze Saal im Beifall. Auch das sind die sonst so kühlen Mecklenburger.