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Lammfromme Fantasy, matt gebügelt

Moritz Eggert/Franzobel: Terra nova – oder Das weiße Leben

Theater:Landestheater Linz, Premiere:26.05.2016 (UA)Regie:Carlus PadrissaMusikalische Leitung:Dennis Russell Davies

Mit dem Wiener Literaten Franzobel hat der in München lebende Komponist Moritz Eggert 2010 eine Bordellballade auf die Bühne gebracht, ein Ein Dreigroscherlnstück. Es löste Irritationen und Proteste aus. Doch war die bei diesem Thema nicht ganz fern liegende Obszönität nicht vom blauen Isar- oder Donauhimmel gefallen. Beim großen Vorbild Brecht findet sich bereits eine Ballade von der sexuellen Hörigkeit und noch die eine oder andere körperrealistische Nummer. Die Frucht der neuerlichen Zusammenarbeit von Eggert und Franzobel wird nun aber wohl kaum der Renitenz gegen gute Sitten verdächtigt werden. Selbst die Ausflüge in ein „Amüsierlokal“, die ursprüngliche Arbeitsstelle der Geliebten des Welt-Präsidenten Ruler, genügen den Keuschheitsgeboten nordamerikanischer political correctness. Bei der für das Oberösterreiche Landestheater geschriebenen und musikalisch reichhaltig ausgestatteten Oper handelt es sich um eine ziemlich lammfromme Fantasy-Story. Der Intendant Rainer Mennicken hat sie eigenhändig zurechtgebügelt.

Das Linzer Team konfrontiert mit einem apokalyptischen Szenario in nicht allzu ferner Zukunft: Die Eine-Welt-Weltregierung hat die Ausplünderung und Zerstörung der Erde nicht verhindern wollen und können. Gegenüber der Ära Trump/Putin/Merkel ist das ökonomische Gefälle zwischen den Eliten und den Volksmassen noch weiter eskaliert. Mehr oder minder friedliche Unmutsbekundungen der Entrechteten und der Outlaws werden niedergemäht. Anführerin der machtlosen Opposition ist die ehemalige Präsidentengattin Lara, jetzt unter dem Namen Chang’e Sektenführerin (ihr Glaube überwindet allerdings alle Schranken des Raums und der Zeit). Die amtliche Astronomin Pandura, eine nachgeborene Halbschwester der antiken Büchsen-Pandora, stellt unvermittelt eine „konkrete Utopie“ in Aussicht: den Umzug auf einen paradiesisch schönen Planeten in der 11. Galaxie. Auf dem leben angeblich friedliche und unsterbliche Außerirdische wie im Schlaraffenland. Durch Meteoriten-Einschläge hat die Weltraumforschung von ihnen Kenntnis gewonnen und zugleich Zugang zu einer Substanz, die alle bislang geläufigen Energieformen um ein Mehrfaches toppt und die Überwindung von Millionen Lichtjahren in wenigen Wochen gestattet. Das ehrgeizige Shuttle-Programm verpufft allerdings: Die drei Muster-Astronauten reisen in einen fröhlichen Drogenrausch und einem unbestimmten Ende zu. Vom intergalaktischen Kontakt zu den unsichtbar bleibenden Lebewesen vom Planet Eden geht allerdings auch eine Infektion aus, deren Symptome weiße Hautflecken sind. Die Seuche bringt nicht schwarzen Tod, sondern weißes Leben: Sie macht die Menschen nach und nach so friedlich und unsterblich wie die Einwohner von Jules Vernes und Offenbachs Quiquendonne. Klassenkämpfe erübrigen sich ebenso wie die Mühen des Geschlechtsverkehrs, da niemand mehr darbt oder neidet, altert oder stirbt.

Franzobel mag die Entbürdung und Entpflichtung der Menschheit von der Reproduktion als komische Volte konzipiert haben. Aber sie bleibt matt in einer Produktion, die im Übrigen Rulers Brave New World ironiefrei in Szene setzt. Die kläglich dargestellten Oppositionellen werden tendenziell denunziert. Carlus Padrissa skizziert die Wohnästhetik und die Machtzentralen der Weltelite in gelegentlich leicht erzitternder Latten-Architektur, die bestenfalls am benachbarten Busbahnhof Maß genommen hat. Besonders atavistisch: Ein Pappraketenstart. Grotesk prüde: die biedere Choreographie keuscher Freudenmädchen von Mei Hong Lin. Es gibt, wenn ohnedies aufwendig mit Video-Zuspielungen hantiert wird, doch keinerlei Zwang, feurig-wuchtigste Energieentladung und andere weibliche Triebkräfte in derartiger Weise gefiltert-quasinaturalistisch zu zeigen.

In musikalischer Hinsicht sorgte Eggert für einen gemischten Satz. Die reichlich aufgetragene Sättigungsbeilage der Nummernoper rührt vom Musical her, insbesondere von Fortschreibungen des amerikanischen von Kurt Weill. An Schikaneders Volkstheater und dessen Königin der Nacht knüpft die Partie der Mondkult-Hohenpriesterin Chang’e an – Mari Moriya bestreitet sie herausragend mit dem großen Ambitus und der Wucht ihrer Stimme. Rhythmische Impulse speisen sich aus den verschiedensten Modellen des 20. Jahrhunderts – weißem Jazz, Barmusik und Rap. Ausladene Orchester-Episoden prunken mit Quasi-Zitaten aus Wagners „Ring“ und dem „Rosenkavalier“ von Strauss. Hier hatte Dennis Russell Davies Gelegenheit, das Bruckner-Orchester Hochleistungsantennen und Sonnensegel für die Geisterfahrt ausfahren zu lassen. Einen neuen Bund mit Gott besiegelt schließlich die von einem Kleinen Prinzen angeführte Hymne für eine Welt ohne Angst, Altern, Aggression und Alternativen („Kitsch, Hilfsausdruck“ würde der Krimiheld Simon Brenner des österreichischen Krimiautors Wolf Haas womöglich sagen, falls er sich ins Musiktheater am Volksgarten verirren müsste). Terra Nova – Neuland ist das alles nicht.