Marie Becker in „Die vier neuen Jahreszeiten“

Lamento über unser aller Not

Antonio Vivaldi feat. Scientist Rebellion: Die vier neuen Jahreszeiten

Theater:Oldenburgisches Staatstheater, Premiere:26.11.2022 (UA)Vorlage:Die vier JahreszeitenAutor(in) der Vorlage:Antonio VivaldiRegie:Kevin BarzMusikalische Leitung:Daniel Dorsch

Der Eisbär ist tot. Sein riesiger, zottelfelliger Körper liegt mahnend drapiert zwischen Zuschauertribüne und Bühne. Wie gefrorene Tränen rieseln Schneeflocken vom Himmel. Eisiges Raunen entfleucht den Lautsprechern. Mit dieser Installation des Klimawandel-Symboltiers gibt das Staatstheater Oldenburg die Zielrichtung aus für „Die vier neuen Jahreszeiten“. Es geht unter der Regie von Kevin Barz weniger um einen Argumente abwägenden Klimawandel-Diskurs, sondern um die plakativen Arrangements und das Klartexter-Pathos der aktuell für Aufregung sorgenden Letzten Generation. Angesichts der Katastrophen verheißenden Erderwärmungsfakten sollen endlich kompromisslose Taten erzwungen werden. Haben Politik und Wirtschaft doch jahrzehntelang notwendige Umweltschutzmaßnahmen ausgebremst und verhindert.

Radikale Widerstandsformate

Um all das in korrekter Wutartikulation auf die Bühne zu bringen, hat Barz Kontakt mit der Scientist Rebellion aufgenommen, ein Zusammenschluss von mehr als 500 Wissenschaftlern aus 42 Ländern, die auf radikalere Widerstandsformate setzen als die Friday-for-Future-Demonstranten. Aus Texten der Aktivisten und dem Interview mit einer entsprechend engagierten Akademikerin wurde der Stückmonolog für eine typisierte Naturwissenschaftlerin-Biografie collagiert, die von Marie Becker gespielt wird. Wie für ein PR-Foto kniet sie sich neben den Eisbären und erklärt dann hinterm Katheder im strengen Vortragstonfall, von klein auf von der zirpenden, zwitschernden, drauflos grünenden, sich selbst organisierenden und heilenden Natur fasziniert gewesen zu sein. Als Streberin habe sie dann die Zusammenhänge verstehen wollen und im Fach Biologie promoviert. Ihr Lamento ist als Premiere der Veranstaltungsreihe „Technical Ballroom“ in dem dafür gebauten Setting (Ausstattung: Nina Aufderheide) platziert, optisch sehr reizvoll designt aus pixelquadratischen Leuchtbildschirmen und Video-Projektionen.

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Über Wetter- und Klimaerfahrungen

„1725“ wird eingeblendet, das Jahr, in dem Vivaldi seine Violinkonzerte „Le quattro stagioni“ veröffentlicht hat, die nun als musikalisches Lamento inszeniert werden. Ein eingespieltes Kammerensemble grundiert die filigranen Aufschwünge der Soloviolinistinnen Agnes Izdebska-Goraj und Maja Syrnicka. So wie Vivaldi den vier Werken jeweils ein Sonett voranstellt, um lesbar zu machen, was hörbar sein soll, erklärt nun die Wissenschaftlerin, dass die jubilierend knospende Frühlingsmusik, ja, das ganze farbenfrohe Abbild der Jahreszeiten der Ausdruck von Wetter- und Klimaerfahrungen im 18. Jahrhundert ist, dem Ausgang einer kleinen Eiszeit. Damals hätte die CO2-Konzentration in der Atmosphäre noch bei 280 ppm gelegen. Die Entwicklung bis heute auf über 400 ppm verdeutlichen Grafiken, die vom Bühnenboden peu à peu dem Bühnenhimmel entgegenkurven. Schon wird „1840“ eingeblendet, rauchende Schlote der Industrialisierung, Kohlehalden, Dampfloks flimmern vorüber (Video: Johannes Wagner). Das unaufhaltsame Fließen der vom Werden und Vergehen erzählenden Klangbeschwörungen Vivaldis verliert dabei seine klare Formensprache. Die Interpretation wirkt beunruhigend verzerrt und wird von Klangstürmen wie Extremwettereignissen bedrohlich durchweht (Musikalische Leitung: Daniel Dorsch). Bald darauf zeigen „Tagesschau“-Bilder brennende Bohrinseln, aber auch wie Flugzeug- sowie Autoverkehre und ein AKW in Tschernobyl explodieren, während sich Menschen zu Tode amüsieren im Konsumrausch. Es folgen Clips über die Folgen: extreme Dürre, extreme Stürme, extremes Artensterben, extrem schmelzende Eisberge etc. Dazu referiert die Wissenschaftlerin über die Grenzen des Wachstums, gegen das kapitalistische Wertesystem usw.

Unterricht für Klimawandel-Anfänger

Eine Unterrichtsstunde mit Agitprop-Appeal für Klimawandel-Anfänger ist diese theaterkünstlerisch eher schlichte Lecture Performance. Die Aufklärerin im Laborkittel schwingt sich aus stoischer Verbitterung zu großem Empörungsfuror auf. Denn: „Wir sind am Arsch.“ Da gelingt ein Epilog in Sachen Utopie dann auch nur halbherzig. Gar nicht gelingt, der Hauptdarstellerin eine lebendige, psychologisch differenziert ausgearbeitete Rolle anzubieten. Ihre Figur ist lediglich die Sprechpuppe wohlbekannter Aussagen inklusive des kassandrischen Schmerzes, dass wissenschaftliche Erkenntnisse und daraus abgeleiteten Forderungen nicht gehört werden. Daraus leitet sie eine moralische Pflicht zum Handeln ab, will ab sofort ein Hindernis im Leben anderer sein, um zumindest so Aufmerksamkeit für ihre, unser aller Not zu bekommen. Da überzeugt die Aufführung. Sie möchte die gegenwärtige öffentliche Meinung drehen und nimmt eindeutig positiv Bezug auf die derzeit verlachten, verhöhnten, kriminalisierten Klimaaktivisten, die sich an Fahrbahnen kleben, um Autos und Flugzeuge am Starten zu hindern – oder Gemälde beschmieren, um zu zeigen, wie lächerlich die ihnen beigemessenen Millionenwerte sind, wenn wir gerade den Lebensraum der nächsten Generation ruinieren. Passend dazu klingen Vivaldis Kompositionen zunehmend so, als wehren sich auch die erhitzten Jahreszeiten, in einem ewigen Sommer aufzugehen.

Natürlich wäre der Abend genauer, würde er auch erwähnen, dass die Klimaaktivisten mit ihren Störaktionen gerade nicht größere Zustimmung für ihr Anliegen generieren, sondern selber Ziel der Diskussionen sind, nicht aber ihre Argumente. Aber die Motivation und Dringlichkeit wird intellektuell nachvollziehbar. Weil Kevin Barz und sein Team eben nicht die Frage stellen: Dürfen die das? Sondern verdeutlichen: Warum machen die das? Was auch einen Aufruf von Theaterkünstlern initiiert hat: „Wir sagen: Ziviler gewaltfreier Widerstand gegen die Klimanotlage ist legitim und notwendig und verdient unsere solidarische Unterstützung.“

Ein Statement des Theaterautors und -machers Lothear Kittstein, aktiver Unterstützer der Letzten Generation, finden Sie HIER