Foto: "Bella Figura" an der Schaubühne. Renato Schuch, Lore Stefanek, Nina Hoss, Mark Waschke, Stephanie Eidt © Arno Declair
Text:Frank Weigand, am 17. Mai 2015
Yasmina Reza und Thomas Ostermeier haben mehr gemeinsam, als man auf den ersten Blick meinen möchte. Beide eint der internationale Erfolg – Reza als erfolgreichste Gegenwartsautorin der Welt, Ostermeier als im Ausland bekanntester deutscher Theaterregisseur. Beide haben dennoch mit Spott und Unverständnis im eigenen Land zu kämpfen: Während Yasmina Reza in ihrer Heimat Frankreich trotz ihres Weltruhms nach wie vor als Boulevard-Autorin belächelt wird, sieht die deutsche Kritik in Ostermeier trotz aller Auslandserfolge vor allem den konservativen „Handwerker“. Ganz nebenbei interessieren sich beide schon seit Jahren für die Abgründe hinter der zivilisierten Fassade der besseren Gesellschaft. Daher überrrascht es nur wenig, dass Thomas Ostermeier nun bei Yasmina Reza direkt ein Stück in Auftrag gab, gemeinsam mit seinem Dramaturgen Florian Borchmeyer eigenhändig übersetzte und schließlich – extrem werkgetreu – inszenierte.
Wie alle anderen Reza-Stücke von „Kunst“ bis „Der Gott des Gemetzels“ ist „Bella Figura“ im Milieu der gesellschaftlich Privilegierten und Besserverdienenden angesiedelt. Die Versuchsanordnung ist denkbar simpel: Bauunternehmer Boris (Mark Waschke) betrügt seine Frau seit vier Jahren mit der medizinisch-technischen Assistentin Andrea (Nina Hoss). Bei einem unharmonischen Rendezvous landen die beiden nicht nur im selben Restaurant wie Françoise (Stefanie Eidt), der besten Freundin von Boris‘ Frau, sondern fahren versehentlich auch noch Yvonne (Lore Stefaneck) an, die alternde Mutter von Françoises Lebensgefährten Eric (Renato Schuch), die gerade ihren Geburtstag feiert. Zunächst entschuldigt man sich beieinander, trinkt Champagner, macht Konversation – bis nach und nach klar wird, dass Andrea und Yvonne die beiden Störfaktoren im Funktionieren der bürgerlichen Welt sind. Während Yvonnes zunehmende Demenz die Beziehung zwischen der willensstarken Françoise und dem öligen, servilen Anwalt Éric gefährdet, macht es die bloße Anwesenheit der nicht standesgemäßen Geliebten Andrea allen Anwesenden schwer, die Fassade zu wahren. Zuletzt haben alle einander ausgiebig beschimpft, Boris droht der finanzielle Bankrott – und Andrea hat alle Beteiligten massiv mit Psychopharmaka versorgt.
Wer bei diesem Plot allerdings eine furiose Abrechnung mit dem dekadenten Bürgertum erwartet, wie sie Ostermeier beispielsweise großartig in seinem „Sommernachtstraum“ mit Constanza Macras geglückt war, wird enttäuscht. „Bella Figura“ ist eine sehr genau gearbeitete, textgetreue Regiearbeit, die in erster Linie gesellschaftlichen Stillstand abbildet. Zwar schlägt Yasmina Rezas Text aus dem Zusammenprall zwischen der bürgerlichen Gesellschaft und den beiden Fremdkörpern Andrea und Yvonne einige großartige Pointen, doch behält er am Ende die Dinge in der Schwebe.
Ostermeiers Inszenierung hat etwas von einer Laborsituation. Hier sind selbst die Toilettenwände durchsichtig und die Protagonisten werden in ihrer ganzen würdelosen Lächerlichkeit gezeigt, die sie immer wieder zu kaschieren suchen, um – so der Stücktitel – „Bella Figura“ zu machen. Die Großaufnahmen von Schmetterlingen, Mücken und Hummern auf der Videoleinwand im Hintergrund mögen einerseits die draußen dräuende Natur verdeutlichen, die bereits in Rezas Text angedeutet wird. Andererseits legen sie auch nahe, dass es sich bei den Protagonisten um brutale Parasiten handelt, die nur das Aufrechterhalten der zivilisierten Fassade von der Tierwelt unterscheidet. Dabei schneiden die Männer – der eitle Boris und der leicht prollig-joviale Éric – weniger gut ab als die Damen. Während die Herren der Schöpfung zunehmend hysterisch-überfordert auftreten, behalten die Frauen eine beinahe tragische Würde. Nina Hoss, Lore Stefaneck und Stefanie Eidt wirken trotz aller Unterschiede immer wieder wie liebevolle Komplizinnen gegen die dumpfe Welt der Männer.
Am gelungensten ist Ostermeiers Inszenierung, wenn sie stumme Bilder für den Subtext von Rezas allzu beredten Szenen findet: Als alle Beteiligten hektisch versuchen, Yvonnes Notizbuch aus der Restauranttoilette zu fischen oder wenig später gemeinsam stumm einer Sternschnuppe nachsehen, bekommt diese Gemeinschaft der sozial Beschädigten etwas beinahe Sympathisches.
Gesellschaftlicher Abstieg, der Verlust der eigenen Persönlichkeit, der schwierige Umgang mit dem Altern der eigenen Eltern – natürlich thematisiert Rezas Texts einige der Grundängste unserer Gesellschaft, doch gelingt es ihm nicht, über die Banalität der Verhältnisse, die er pointiert beschreibt, hinauszukommen. Thomas Ostermeier, der das Stück mit sehr viel Respekt behandelt, hier und da ein wenig dramaturgisch päzisiert, aber weder zuspitzt noch in die Eskalation treibt, hat dem nur wenig hinzuzufügen. Trotz mancher witzigen Slapstickszene bleibt das Tempo der Inszenierung gedrosselt, als befinde sie sich ähnlich wie Andrea und alsbald alle Beteiligten unter dem Einfluss dämpfender Medikamente. Und dies ist auch der Gesamteindruck dieser „Bella Figura“: ein watteweich verpacktes, gepflegtes Unwohlsein, mit dem es sich jedoch – auch als bürgerlicher Zuschauer – mühelos leben lässt. Natürlich mag man die Stagnation der Akteure als Metapher für den Status Quo unserer westlichen Gesellschaft sehen, die unfähig ist, auf geopolitische Veränderungen zu reagieren, doch reicht dies vermutlich nicht aus, um Yasmina Reza im allgemeinen Bewusstsein zu einer politischen Autorin zu machen. „Bella Figura“ bleibt kluger, pointiert geschriebener Boulevard mit Abgründen – Ostermeiers Inszenierung – vor allem in der Schauspielerführung – großartiges, jedoch nur wenig subversives Handwerk.