Foto: "Paradies" mit Maike Knirsch (Vordergrund) © Krafft Angerer
Text:Nicolas Garz, am 6. September 2020
Die Welt ist ungerecht, selbstzerstörerisch und grausam. Das ist zwar keine neue Erkenntnis, aber es lohnt sich, von ihr zu erzählen. Nur wie? Wie erzählt man glaubwürdig von der desaströsen Schieflage, in der sich die globalisierte Welt befindet? Just zum Saisonstart nach langer Corona-Pause nimmt sich am Hamburger Thalia Theater der Regisseur Christopher Rüping dieser Frage an – mit der Erstaufführung von „Paradies“, einer auf ungefähr zwei Stunden Spielzeit komprimierten Bühnenfassung von Thomas Köcks „Klimatrilogie“.
Passend zum Titel erzählt jede einzelne Episode von den großen, paradiesischen Verheißungen der kapitalistischen Welt – und dem Elend, das sie Tag für Tag produziert: Ein chinesischer Schneider und seine Frau wandern nach Italien aus, um dort in einer Fabrik für Discounter-Kleidung unter schlechtesten Bedingungen zu schuften. Eine Kriegsreporterin ist in einem Luxushotel gefangen, weil draußen der Bürgerkrieg tobt; also schießt sie stattdessen Bilder von grölenden Kollegen am Pool. Es geht aber auch um die Ausbeutung brasilianischer Kautschukbauern Ende des 19. Jahrhunderts. Und um eine auseinanderbrechende Familie aus Osnabrück: Die Tochter (Maike Knirsch) ist eine prekär beschäftigte, dauerhaft ‚querfinanzierte’ Tänzerin, der Vater (für den erkrankten Hans Löw eingesprungen: Günter Schaupp) ein selbstständiger Kfz-Mechaniker, beide im Kreislauf der Selbstausbeutung – oder Selbstoptimierung, je nach Sichtweise – gefangen.
Lose zusammengebunden werden diese Elendsepisoden von einer fiktiven Fahrt im ICE. Der Schaffner (Abdul Kader Traoré) führt als schrill gekleideter Conférencier das Publikum von Ort zu Ort, wobei jede einzelne Station aus dem immer gleichen, verglasten Industriecontainer besteht, einem klaustrophobischen, transparenten Gefängnis inmitten der von Peter Baur gestalteten Rundbühne. Musikalisch wird das Ganze begleitet von Bassgitarre und Schlagzeug sowie der Beatboxerin Lia Şahin, deren Performance gute Laune verbreitet, wenngleich nicht klar wird, inwiefern ihre Kunst zum Thema passt.
Was aber fehlt dieser in vielerlei Hinsicht soliden Inszenierung? Woran liegt es, dass sie seltsam unnahbar, distanziert und zuweilen schlicht langweilig daherkommt? Das Grundproblem ist der erzählerische Rhythmus – es geht alles viel zu schnell. Hastig springt die Inszenierung von Ungerechtigkeit zu Ungerechtigkeit, von Schicksal zu Schicksal, von Wunde zu Wunde. So wird der ICE zur Metapher der kapitalistischen Moderne, die immer weiterwill und niemals zur Ruhe kommt. Das ist zwar ein passendes Bild, offenbart aber gleichzeitig das Grundproblem dieses Theaterabends: Er lässt keine Zeit zum Verweilen, Nachdenken, Mitfühlen, und zwar weder den Darstellern noch den Zuschauern. Kaum hat man begonnen, sich diesen Figuren und ihren Problemen anzunähern, rast der Schnellzug schon weiter, zu den nächsten Wunden, den nächsten Opfern, den nächsten Katastrophen.
Und so werden die namenlosen Figuren nicht zu erlebbaren Charakteren, sondern zu reinen Belegen für die Verkommenheit der Welt. Vor lauter Beweissuche verliert sich Rüpings Inszenierung im Oberflächlichen, postuliert Problem um Problem, statt von echten Menschen zu erzählen, die jeden Tag mit diesen Problemen leben. Kurzum: „Paradies“ funktioniert an verschiedenen Stellen wie hektisches Zappen von Nachrichtensender zu Nachrichtensender, während man nebenbei noch die News auf dem Smartphone checkt.
Und ähnlich wie bei dieser alltäglichen medialen Reizüberflutung bleibt auch am Ende dieser Inszenierung ein Gefühl pessimistischer Leere, das sich leider viel zu bequem anfühlt: In diesem Zustand tritt man nach Abklingen des Applauses in die spätsommerliche Nacht, stößt mit den anderen Zuschauern auf die Wiedereröffnung des Thalia Theaters an, und vergisst diese sehr, sehr schlechte Welt ganz schnell wieder – ohne mieses Bauchgefühl, ohne Gewissensbisse. So wie immer: Shit happens, die Welt ist eh verloren.