Vom Wesen der Kunst und des Menschseins
Das Team der „KI-basierten Konzertübung“ um Michael v. zur Mühlen folgt in seiner neuen Performance dieser Wahrnehmung des Seltsamen und denk damit das von der Oper zum Videogame gewordene Projekt „opera! opera! opera! revenants ans revolutions“ weiter. In Thomas Köcks und Eloain Lovis Hübners Plot für die Münchener Biennale versucht ein Cyborg von den Avataren eines Opernchors das Wesen der Kunst und damit des Menschseins zu erfahren. Jetzt hängen die mitwirkenden Menschen zum Kunstfest Weimar in der KET-Halle an der Konsole und an den Lippen von Avataren auf dem Screen. In „The Weird & The Eerie“ wird nicht nur erinnert, sondern Erinnerungsgedanken einzelner auch bebildert.
Thomas Köck, vom Kunstfest Weimar seit Jahren als Autor und Koautor favorisiert, verkündete ein spannendes Spiel durch Fragen an die KI. Wo wird das individuelle Erinnern der österreichischen Performist:innen an Orte ihrer Jugend für die Mehrheit erfahrenswert? Wie lassen sich diese Orte mit VR bebildern? Welche Eigendynamik bekommen dadurch die anwesenden Zuschauer, die Antworten der KI und die dumpf wummernden Sounds der von Katharina Ernst, Annea Lounatvuori, Thomas Köck und dem Komponisten Andreas Spechtl ausgeführten Bühnenmusik? Diese verleugnet ihre Inspiration aus dem Hard Rock von vor fast 50 Jahren nicht. In der halbdunklen KET-Halle hängt das Band-Quartett an den Instrumenten und an der Konsole. Mit der KI kommunizieren sie meistens auf Englisch. Es geht um’s Essen und darüber, wie die Menschheit Frieden schaffen könnte.
Eine Fabrik als faszinierender Spielort
Wieder sind die Schauplätze des Kunstfest Weimar faszinierend. Die KET-Halle ist als Produktionsort des 1898 gegründeten Weimar-Werks ein spätgründerzeitlicher Fabrikbau mit unverputzten Innenwänden. In den 1930er und 40er Jahren wurde sie zu einem industriellen Musterbetrieb der nationalsozialistischen Gustloff-Werke ausgebaut. Martin Miotk lässt in diesem archaischen Showroom und seiner Ausstattung Gegensätze aufeinanderprallen. Die gemalten Häuserblocks auf Leinwänden verdecken die Ziegelwände. Vier Särge verweisen auf die in VR so leicht verdrängbare eigene Sterblichkeit.
Mit Schriften vor gemalten Gesichtern feiert man den Abschied vor der unverwechselbaren Persönlichkeit, propagiert jetzt digitale Multiplizität und Austauschbarkeit. Die elektronische Verstärkung der Sprechenden ist rau, das musikalische Sounddesign grob. So bleibt vieles unverständlich. Köck indes erweist sich als einer der jüngeren Autoren ohne Berührungsängste mit KI. In seinen einfachen Fragen verzichtet er auf alle poetischen Werkzeuge. Der Projektstratege Michael v. zur Mühlen setzt auf die Vereinigung von Gamedesign und Theatralität. Letztlich würde das Projekt auch im Onlinemeeting funktionieren.
Eine begehbare Raumgestaltung
Welche persönlichen Erinnerungen von Einzelnen sind für die Allgemeinheit relevant? Auch um diese Frage dreht sich die ebenfalls als Installation begehbare Raumgestaltung, in der Vintage und nicht optimal bespieltes Hightech aufeinanderprallen. Großartig geraten die digitalen Raumlandschaften. Verhältnismäßig einfach wirken noch die vom Komponisten Andreas Spechtl beschworenen österreichischen Eigenheime. Das sind in seiner Wahrnehmung mittelständische Bungalows. Von Videoflächen winken in diesen – Dokus mittels VR – populistische Volksvertreter. Annea Lounatvuori beschwört dagegen einen See ihrer finnischen Heimat. In Katharina Ernsts Vision eines Feldes schieben sich kleinwüchsige Soldaten mit Helm und Masken. Zeichen für den Krieg in der Welt und Angst vor diesem. Die weiße Rauchsäule hinter dem Screen wirft auf diesem einen schwarzen Schatten und macht die VR-Reality noch apokalyptischer.
Die Videodesigns können auf längere Dauer nicht fesseln. Dem Projekt fehlt wie im Verzicht Köcks auf die poetischen Mittel und Zwischentöne letztlich eine Dimension, welche im konventionellen Theater durch Bildgewalt und Suggestivität ersteht. Das Motto „Wofür wir kämpfen“ des Kunstfests Weimar 2024 wird in diesem Kontext bipolar. Kämpfen wir tatsächlich für Theatersituationen, in denen Akteur:innen und Publikum sich mehr oder weniger in simple Dialoge mit der KI verstricken und zwischenmenschliche Kommunikation nur indirekt über einen virtuellen Raum stattfindet?
Dabei begann der Abend nach den üblichen Gebrauchsanleitungen mit ironischem Humor. „Noone cries forever.“ steht auf einem riesigen Würfel hinter einem hölzernen Toilettenhäusl in Schneelandschaft, aus dem Köck seinen Avatar erst einmal trickreich herauslockt. Die sandfarbenen Hochhaus-Quader im virtuellen Raum sind ohne Balkone und Fenster, während von den Hochhaus-Balkonen auf Miotks Leinenbahnen Gesichter lächeln. Und für was gab es die Orden, welche in einem Schrank zwischen den frei im Raum verteilten aufgehäuft wurden? Das Publikum nahm die Angebote zum Herumgehen und Betasten nicht an. Das könnte man – neben noch fehlender Übung mit theatralen VR-Formaten – auch als Sehnsucht nach der klassischen vierten Wand im Theater deuten. So verlässt man trotz heftigen Beifalls die mit zwei vollen Stunden etwas über den inhaltlichen Substanzgehalt gedehnte Performance mit dem Gefühl, das Macher und Zuschauer hier noch auf verschiedenen Verständnis-Planeten agieren.