Beim Kunstfest Weimar zeigt die Berliner Opernkompagnie Novoflot „Ein Ermordeter aus Warschau“. Die Überrschreibung von Arnold Schönbergs „Ein Überlebender aus Warschau“ gerät zur Raumeroberung in der Nähe des Mahnmals Buchenwald.
Auch die freie Berliner Opernkompagnie Novoflot praktiziert ein derzeit verbreitetes Mittel der Überschreibung und Verfremdung: Sujets und freie Themenentwürfe kommen als streitbare Probe auf dem Theater zur Darstellung. So wird nicht nur die Handlung oder ein konzeptionelles Anliegen dargestellt, sondern auch durch Wertungen und zusätzliche Informationen aus den Dialogen der Figuren erweitert. Einige Risiken der szenischen Umsetzung entfallen dadurch: Bei Extremthemen wie Massenvernichtungen oder Holocaust besteht weniger die Gefahr, Leid und Brutalität in plakative Bilder zu pressen. Die Erschütterung erfolgt bei solchen Konzepten in genau jener Intensität, mit der sich das Publikum darauf einlässt.
Das beim Kunstfest Weimar in der Redoute des DNT uraufgeführte Stück „Ein Ermordeter aus Warschau“ ist eine Kollage innerhalb des sechsteiligen Projekts „Die Harmonielehre“ über das Vermächtnis des Komponisten Arnold Schönberg (1874 bis 1951). Begonnen wurde „Die Harmonielehre“ in der Berliner Akademie der Künste 2022. #4 bis #6 folgen im September 2024 an verschiedenen Orten Kölns.
Klangfülle in Sichtweite zu Buchenwald
Mit Schönbergs „Ein Überlebender aus Warschau“ ist es unter der Regie von Sven Holm wie in Becketts „Warten auf Godot“ mit der Titelfigur. Das legendäre Melodram für Sprecher, Männerchor und Orchester aus dem Jahre 1947 kommt nicht vor. Stattdessen wird mit der Jazz-Rock-Formation Johnny La Marama und dem Ensemble dissonArt die Komposition „Ein Ermordeter aus Warschau“ des Novoflot-Kompagnons Michael Wertmüller aufgeführt: Unter Vicente Larrañagas Dirigat bläht dieses wilde und raumgreifende Stück durch Instrumentation und Klangfülle immer heftiger die Nüstern und bäumt sich bis zum Fortissimo-Torpedo auf – mit Jazz-Anklängen, atonalen Verdichtungen und einem Swing fast wie von Gershwin. Das gerät zu lebhaft artikulierter Betroffenheit im Schatten des Etterbergs mit dem weithin sichtbaren Mahnmal Buchenwald. Nur wenige Meter entfernt von der Redoute stehen die Erinnerungstafeln für die Buchenwaldbahn, mit der Häftlinge aus ganz Europa Richtung Konzentrationslager und Richtung Vernichtungslager Auschwitz transportiert wurden.
Das Stück „Ein Ermordeter aus Warschau“ und eigentlich das gesamte Kunstfest Weimar 2024 geraten zur Erinnerungsblüte an einer gefühlten Zeitenwende. Der wichtigste Beitrag von Max Czollek ist hier die Frage nach wichtigem Erinnerungsstoff für das kollektive Gedächtnis durch Zeitzeugen, wenn in diesen Jahren neben den ältesten Überlebenden der Konzentrationslager auch die letzten Täter versterben. Zwischen Wertmüllers aufbäumender Komposition und dem durch die szenische Probensituation verdichteten Eindruck des Hinterfragens gewinnt Novoflots Harmonielehre #3 Brisanz.
Novoflot setzt Anstöße zu einem aphorismenhaften wie bohrenden Erinnern. Für Weimar klammert Novoflot allerdings weitgehend aus, was in den anderen Teilen des Schönberg-Zyklus wesentliche Themen sind: Weil die Aufführungsrechte für Schönbergs Werke 2022 frei wurden, will Novoflot die verstörenden Aspekte von dessen Oeuvre in die Breite tragen und zugleich bewahren, dazu auch die Frage nach der Bedeutung von Aufführungsrecht diskursiv auffächern.
Karge Bühne, stumme Videos
Nina von Mechows Bühne ist karg, aus diesem Spielraum spürt man die Härte von Kopfgeburten. Die Sängerinnen Rosemarie Hardy, Noa Frenkel und die am Ende mit kraftvoller Grazie eine Erdbeertorte zermatschende Ichi Go intonieren Fragmente aus Schönbergs Monodram „Erwartung“, den Zyklen „Herzgewächse“ und „Buch der hängenden Gärten“ so leichtgewichtig, als würde der Wind ein Lied erzählen. Auch im Video-Tripel kurz vor Schluss gibt es Kuchen. In drei stummen Videos kommt eine kleine Gruppe von Menschen verschiedenen Alters, verschiedener Ethnien und verschiedener Orientierungen bei einer Kaffeetafel zusammen. Im ersten Video brechen die älteren Frauen unter massiv emotionalem Stress in Tränen aus, das zweite Video mündet in eine erleichternde Lachsalve und das dritte in eine unmissverständlich scharfe, ja existentielle Diskussion. Drei Möglichkeiten sind das, um über Traumata zu räsonieren.
Die 90 Spielminuten zeigen einmal mehr die bewundernswerte Souveränität Novoflots bei Raumeroberungen – ob auf dem Denkmal-Rondell des Max-Joseph-Platzes zur Münchener Biennale, in der engen Villa Elisabeth Berlin-Mitte bei der „Fidelio“-Installation zum Beethoven-Jubiläum oder an kontrastierenden Orten der Kunstfeste Weimar. Bei der straff gesetzten Produktionsdichte schleifen sich natürlich abrufbereite Approximative ein. So wird das Musiktheater-Ensemble zum Garant für kalkulierbare Verstörungen. Novoflots Interventionen erweisen sich deshalb für andere anspruchsvolle Überschreibungen als Vorbilder.