Foto: Vorn: Rosario Guerra als Nijinski, am Mikro: Mark Geilings © Regina Brocke
Text:Bettina Weber, am 18. Juni 2016
Waslaw Nijinski – wir denken an filigrane Sprünge, virtuose Technik, Genialität. Woran Marco Goecke denkt? Offenbar vor allem an eine hochsensible Künstlerpersönlichkeit. Der Hauschoreograph des Stuttgarter Balletts, der für diese Produktion zu Gast ist bei Gauthier Dance im Theaterhaus, hat dem Jahrhunderttänzer und -choreographen nun ein abendfüllendes Ballett gewidmet. Entstanden ist eine bemerkenswerte Fusion aus der unverwechselbaren, zittrig-nervösen bis rasenden Körpersprache Goeckes und einer Erinnerung an den Künstler Nijinski, die auch choreographische Elemente aus dessen Tänzerkarriere zulässt. Die Choreographie nimmt den Menschen Nijinski und sein Wesen in den Blick, überführt Emotionen in hochästhetische Bewegungen. Der Skandal um „Le Sacre du Printemps“, den man bei Nijinski gleich mit assoziiert, wird zurückgestellt, vielmehr widmet sich Goecke Nijinskis Prägung durch seinen Förderer Sergej Diaghilew und die Ballets Russes.
Goecke hat mit dem Lichtdesigner Udo Haberland, der Dramaturgin Esther Dreesen-Schaback und der Bühnen- und Kostümbildnerin Michaela Springer ein Team von Künstlern mitgebracht, das er bereits von zahlreichen gemeinsamen Produktionen kennt und die seine Arbeit auch hier mit bewährten, simplen und zurückhaltenden Mitteln unterstreichen. Neuland dagegen war die Zusammenarbeit mit den Tänzern der Gauthier Dance Company, die jedoch die intensiven körperlichen Herausforderungen der Choreographie meisterlich bewältigen.
Formale Strenge erhält der Abend durch die Gliederung in drei Teile à drei Bilder. Erkennbar geht es Goecke weniger um die Nacherzählung einer Biographie als vielmehr um Bilder wesentlicher Stationen. Der Inhalt ist überschaubar: Am Anfang steht ein Prolog, der sich abstrakt der Kraft der Kunst widmet sowie der Begegnung der Muse des Tanzes mit dem Kunstförderer und Begründer der Ballet Russes, Sergej Diaghilew. Erst im zweiten Teil geht es konkret um Nijinski, seinen Weg auf der Ballettschule und der Karriere bei den Ballet Russes. Die Choreographie blickt auf den Einfluss seiner Mutter (Alessandra la Bella), seiner späteren Frau Romola (Maria Prat Balasch) und vor allem auf die Hassliebe zu Diaghilew (David Rodriguez) sowie auf Nijinskis (homo-)sexuelles Erwachen. Im dritten Teil kippt die Entwicklung: Auf den Karrierehöhepunkt folgt die Ermächtigung des Wahnsinns über seine Sinne. Goeckes abstrakte Erzählweise ist im Prolog schon erkennbar, entwickelt aber – dies mag vielleicht die einzige Mangelerscheinung des Abends sein – erst ab dem Moment volle Durchschlagkraft, wo der Protagonist Nijinski selbst die Bühne betritt. Nicht zuletzt, weil bei aller Qualität des übrigen Ensembles Rosario Guerra durch seine überragende darstellerische Kraft der Figur Nijinski an diesem Abend einen besonders starken Charakter verleiht.
Faszinierend ist wieder einmal Goeckes Technik, klassische Ballettelemente wie ein Molekularkoch auf ihre Essenz zu reduzieren, um sie dann durch Tempoveränderungen oder Wiederholungen zu variieren und neu miteinander zu kombinieren: So entsteht hier ein Zeitlupenplié, rudern die Tänzer dort wie rasend mit langgetreckten Armen. Als Choreograph hat sich Marco Goecke an diesem Abend nicht neu erfunden, trifft aber mit bewährten Mitteln einen Nerv: Das nervöse Zittern beispielsweise, wie man es aus anderen Stücken Goeckes kennt, versinnbildlicht Qual und Energie des genialischen Schaffens von Nijinski, unterstrichen von einer starken Mimik und auch von Lauten, die die Tänzer von sich geben. Spannungsreich wird die Choreographie aber vor allem durch die Anknüpfungspunkte an Rollen und Stücke, die Nijinskis Karriere besonders geprägt haben: Zur Musik von Frédéric Chopin und Claude Debussy zitiert Goecke unter anderem Elemente aus „Petruschka“, „Spectre de la Rose“ und „L’Après-midi d’un faune“ und integriert sie kunstvoll in seine eigene Körpersprache. Dazu passen die reduzierten Kostüme von Michaela Springer, die durch einzelne Bestandteile wie Diaghilevs Mantel oder den weißen Kragen des Clowns aus „Petruschka“ den nötigen Assoziationsspielraum zulassen, ohne plakativ zu werden. Das Flatterhafte, nahezu Abseitige an Nijinskis Charakter streicht die Choreographie von Anfang an heraus, wodurch die Nähe zum Wahnsinn immer präsenter wird, bis dieser ihn schließlich wie eine dunkle Macht gänzlich übermannt. Dieses „Etwas“ nimmt mit Anna Süheyla Harms Gestalt an, die langsam ihre Hände um Guerras Hals legt, bricht sich Bahn in einer narzisstischen Spiegelszene und wütenden Schreien, mündet schließlich in stummer Malerei: Hektisch zieht Guerra unsichtbare Kreise auf dem Boden, bis der Tod alles beendet. Begeisterter Applaus des Premierenpublikums für eine in der Tat charakteristische und hochemotionale Künstlerbiographie.