Foto: Ein Theaterraum in Kreisgestalt. Die "Toccata III" im vierten Akt läuft in der Inszenierung von Carlus Padrissa als Film ab © Paul Leclaire
Text:Andreas Falentin, am 30. April 2018
Großereignis an der Oper Köln: zum Acht Brücken Festival inszenieren „La Fura dels Baus“ Bernd Alois Zimmermanns grandios musizierte „Soldaten“
Michael Gielen, der Dirigent der Kölner Uraufführung im Jahr 1965, gab vor einigen Jahren in einem Interview freimütig zu, dass er nie recht verstanden habe, was Bernd Alois Zimmermann eigentlich gemeint habe mit der „Kugelgestalt der Zeit“. Und die wird ja heutigen Tags stets bemüht, wenn von den „Soldaten“ die Rede ist. Das katalonische Performer-Kollektiv La Fura dels Baus hat sich bei der ersten Kölner Inszenierung seit 53 Jahren nun für eine Art Dimensionen-Downsizing entschieden und setzt jenem Ausspruch die Kreisgestalt des Raumes entgegen.
Orchester und Publikum sind im Staatenhaus 1 mit einer 360-Grad-Galerie umgeben, die nach hinten durchgängig mit gut zwei Meter hohen Projektionswänden abgeschlossen wird. Zum Preludio marschieren vor einer höher angebrachten weißen Wand Silhouetten von Soldaten auf und wecken im Zuschauerraum die Angst vor unreflektiertem Kasperltheater. Aber nach wenigen Minuten schon ist man gefangen im Klang, absorbiert von der Kraft, von den Feinheiten, vom bitteren Witz dieser unglaublichen, unmöglichen Musik. GMD Francois-Xavier Roth gelingt mit dem hochmotivierten Gürzenich-Orchester und den sage und schreibe 41 Gesangssolisten – 18 davon aus dem Chor der Kölner Oper – eine ideale Wiedergabe. Selbst in der größten Klangballung ist kein Überdruck, kein Krampf, nichts Ungefähres zu hören. Die zahllosen Schlagwerkeinsätze kommen präzise und klar vermittelt, die Interaktion mit der vierköpfigen Jazzband klappt reibungslos und erzeugt dabei schönste Reibungen. Die Klarheit der Disposition, die Leichtigkeit, mit der der Riesenklangkörper die Flügel ausbreitet, faszinieren über die Maßen, geleitet und unterstützt von Paul Jeukendrups Klangregie. Nur die großen Soldatentableaus im ersten Teil, eins zwischen Publikum und Orchester angesiedelt, eins im vorderen Halbrund der Galerie, klingen etwas schwammig. Hier mischt sich der Klang nicht, er verschwimmt, was technisch wohl nicht anders möglich ist.
Und besonders auffällt, weil eine bekannte Schwäche des Regisseurs Carlus Padrissa zu Tage tritt. Auch in seiner fünften Kölner Arbeit begibt er sich nicht wirklich in das Stück hinein und zeigt sich dem klassischen Regiehandwerk selbstbewusst abhold. Er schürft an der Oberfläche der Stücke, im Klang und im historischen und philosophischen Umfeld nach Bildideen. Das führt gerade in der berühmten Kaffeehausszene mit 25 Beteiligten zu uninspiriertem Steh- und Gehtheater, das in einem ästhetisierten Was-auch-immer mit der andalusischen Tänzerin im Zentrum gipfelt.
In vielen anderen Szenen aber funktioniert der La Fura–Stil bemerkenswert gut, diese Mischung aus auf das Nötigste beschränkten, mal ausgestellten, mal fast verschämt agierten Standardgesten und großen, symbolisch aufgeladenen Bildern. Da tut sich etwa plötzlich im Hause Wesener – das befindet sich immer hinten links, die Gräfin La Roche wohnt hinten rechts – die Wand auf. Beide Männer, der brave Tuchhändler Stolzius und der fiese Offizier Desportes, der Marie verführen und ins Unglück stürzen wird, erscheinen im Nebel und wir hören in der Musik, dass es aus diesem Scheideweg für das hilflose Mädchen kein Entkommen gibt. Später, in der großen Toccata im vierten Akt, werden alle aus dem Off singen, auf den Projektionswänden spiegeln Filme Handlungssituationen wieder, nur Marie irrt allein durch einen sehr gegenständlichen Birkenwald, der dann vom zur Vergewaltigung ausgesandten Jäger ausgestellt plump abgeholzt wird.
Zu Beginn zeigen Flammen und aufgeschichtete Leiber das Aggressionspotenzial nicht nur der Kriegsmaschinerie vor. Das Feuer wird zum Begleiter von Desportes, Stolzius wird Wasser zugeordnet. Andere Zuweisungen sind weniger klar und manchmal wuchert und flackert sie zu sehr, die Projektionsmaschine und beginnt, die Ohren zu schließen. Und doch dient sie dem Stück, wie auch die eklektizistischen Kostüme von Chu Uroz. Da wird historisiert, etwa in Weseners Kostüm, der wie ein altertümlicher Handwerker daherkommt. Uniformen aus der Zeit der vorletzten Jahrhundertwende werden kombiniert mit der für La Fura dels Baus typischen Gesichtsbemalung. Die alten Frauen dagegen (Stolzius‘ Mutter, Weseners Mutter, die Gräfin) sehen aus, als wären sie aus einem Kuriositätenkabinett, einem Heimatmuseumsvarieté entsprungen. Es entsteht ein ästhetischer Gemischtwarenladen.
Und der trifft sonderbarerweise ins Zentrum des Stückes. Wir ahnen, was Bernd Alois Zimmermann uns sagen wollte. Diese Welt aus den Fugen, diese Menschen ohne Aufgabe, ohne Bindungen, gesteuert ausschließlich von Trieben, von Gier, von wilder Lust nach Entfaltung, diese Gesellschaft ohne moralisches Korrektiv wollte der Komponist gestalten und anprangern. Und er sah sie nicht als Zeiterscheinung, sondern als zivilisatorische Konstante. Und das vermittelt sich in der Kölner Aufführung – wenn auch nicht unbedingt als „Kugel“.
Und die Sänger gehen nicht verloren in diesem gewaltigen Aufmarsch von Technik und Bildern. Alle singen rollendeckend, manche großartig. Der Hauptmann Mary von Wolfgang Stefan Schwaiger etwa wird mir unvergesslich bleiben mit seiner klaren, konzentrierten Präsenz und seiner beweglichen, wortverständlich und klangschön geführten Baritonstimme. Souverän, mit rhetorischer Finesse gibt Frank van Hove den Wesener, Sharon Kempton als La Roche flutet das Theater nach der Pause in ihrer langen Szene mit zusätzlicher Energie, Judith Thielsen verleiht der Charlotte scheinbar mühelos ein intensives, sehr stimmsinnliches Figurenprofil und Martin Koch (Desportes) und Nikolay Borchev (Stolzius) machen gleichermaßen klar, warum man sich in sie verlieben kann – und besser nicht sollte. Bleibt Emily Hindrichs als Marie. Sie führt die Stimme weniger schlank als Rollenkolleginnen wie Barbara Hannigan oder Gloria Rehm, klingt weniger „schön“, weniger brillant in der Höhe. So wirkt sie in ihrer ersten Szene nicht kokett, sondern orientierungslos. Aber das passt zur Figur. Und musikalisch lässt auch Emily Hindrichs keinerlei Wünsche offen, kommt überall hin, schwächelt nie.
Und die hohe Leitung? Auf der Premierenfeier schäkern Birgit Meyer und Francois-Xavier Roth miteinander, als gäbe es gar kein Zerwürfnis. Dabei steht doch im Raum, dass Roth für seine Vertragsverlängerung Meyers Demission verlangt haben soll. Wenn man die zwei so nebeneinander die Mitwirkenden aufrufen sieht, mag man das kaum glauben. „Wenn ich nun mein Glück besser machen kann…“, überlegt Marie bei Jakob Michael Reinhold Lenz und Bernd Alois Zimmermann in der Szene, die ihr Unglück auslöst. Soll man nicht, natürlich. Besser den Augenblick genießen. Auch, wenn’s weh tut.