mauerschau_c__w.ho__sl.jpg

Küsse, Bisse

Hauke Berheide: Mauerschau

Theater:Bayerische Staatsoper, Premiere:29.06.2016Autor(in) der Vorlage:Heinrich von KleistRegie:Amy StebbinsMusikalische Leitung:Oksanna Lyniv

Heinrich von Kleists „Penthesilea“ ist in ihrer poetischen Metaphern-Dichte oftmals reine (Sprach-)Musik. Trotzdem konnte Othmar Schoeck 1925 eine 80 Minuten lange, konzentrierte Oper komponieren, deren Text sich eng an Kleist anlehnte und kühn vertont war, die Sänger aber auch oft sprechen ließ. Hauke Berheide gelang jetzt ebenfalls eine packende Version, bei der er für jede der in vier Teilen zusammengefassten 12 Szenen eine eigene musikalisch suggestive Sprache fand, die von feinster Kammermusik und betörend schönen Klängen bis zu brachialer dissonanter Bläser-Attacke reichen konnte. Tonalität oder gar Schönheit sparte er dabei keineswegs aus. Mit Ausnahme einer Botin (die große Schauspielerin Hildegard Schmahl) wurde fast immer virtuos gesungen. Oft waren Penthesilea und Achill zusammen mit ihren jeweiligen beiden Schatten als Terzett zu hören, ein 15-köpfiges Männer-Vokalensemble (der exzellente Extrachor der Bayerischen Staatsoper) kommentierte unsichtbar.

Dabei konnte Berheide sich auf ein Libretto der Regisseurin des Abends, Amy Stebbins, stützen, das mehrfach durchlässig war für andere Texte Kleists (aus dem „Homburg“ etwa), von Karoline von Günderode, oder gar von Joschka Fischer und Donald Rumsfeld. Kleists Schauspiel war so aufgefächert als ein Traum-Tagebuch, in dem alles zu allem kommt, Realität und Schein untrennbar miteinander verbunden sind. Krieg und seine Deutung durch Sehen, Hören und Berichten verschwimmt und stürzt die Protagonisten in tiefste Verwirrung. Was beim klassischen Drama (und in „Penthesilea“ mehrfach eingesetzt) „Mauerschau“ heißt, also die Erzählung dessen, was der Zuschauer nicht sehen kann, wird in der gleichnamigen Oper als Sehen durch Nachtsichtgeräte oder Ferngläser fortgeführt.

Grandios die Bühne dafür: Das Künsterduo Petra Bachmaier und Sean Gallero („Luftwerk“) sowie der Licht-Designer Benedict Zehm erschufen einen dreifach gestaffelten Raum, in dem die Figuren nach hinten immer unschärfer werden. Flexible Projektionen von Rahmen teilen diesen Raum immer wieder, lassen auch schon mal virtuelle Gefängnisse entstehen; grünes Licht assoziiert die Nachtsicht-Videos, wie wir sie aus aktuellen Kriegen kennen, und erzeugt zusammen mit dem Linienspiel einen beunruhigend unwirklichen 3D-Effekt.

Mit ihren opulenten Kostümen in gold-weiß zizilierter Pracht werden die Protagonisten zwar weit in eine (Theater-)Historie entrückt, kommen uns singend aber ganz nahe. Das liegt auch an der Mezzosopran-Intensität der Kolumbianerin Adriana Bastidas-Gamboa als Amazonenkönigin am Rande des Nervenzusammenbruchs (und ihren beiden Schatten Leela Subramaniam und Hanna Herfurtner) sowie (neben Joshua Owen Mills und Frederic Jost als seinen Schatten) herausragend der Franzose Edwin Crossley-Mercer als einem in jeder Hinsicht attraktiven griechischen Heerführer Achill, dessen junger Bariton ungemein verführerisch schilleren konnte. Er tut es ganz im Sinne des Credos aus der Feder des Komponisten: „Die Musik soll die Leute dazu verführen, etwas zu mögen, was sie eigentlich nicht mögen sollten.“

Immer wieder bricht die Botin zu Beginn der vier Teile den Zusammenhang der Handlung auf. Am verrücktesten geschieht das wohl in der Erzählung von der Erfindung einer münchhausenschen „Bombenpost“, die Kleist 1810 satirisch und antimilitaristisch in seinen „Berliner Abendblättern“ proklamierte und die hier in ihrer Vorwegnahme des Telegraphen von Hildegard Schmahl genüsslich und leichthin gesprochen wird. Aber auch das Kleist’sche Brief-Zitat, das darüber spekuliert, wie wir die Welt sähen, hätten wir statt Augen grüne Gläser, bekommt im Zusammenhang mit dem Grün, das ein Nachtsichtgerät erzeugt, eine ganz eigene Bedeutung. Zu Beginn des vierten Teils singt die Botin dann sogar zusammen mit Achill und seinen Schatten ihre Text-Collage ganz im Sinne Brecht/Weills.

Am Ende erschafft sich Penthesilea singend in einem vierfachen „So“ einen Dolch aus Worten (und Tönen), um sich das Leben zu nehmen, nachdem sie ihren geliebten Achill nicht nur getötet, sondern zusammen mit ihren Hunden gar zerfleischt hat. Leider traut Hauke Berheide der niederschmetternden Kraft dieses Ende nicht und lässt das „So“ geflüstert noch einige Zeit in Dolby Surround durch den Raum geistern. Aber das ist auch schon der einzige winzige Makel an diesem spannenden, intensiven, lehrreichen Abend.